2022, Tag 2

Es ist Mittwoch Mittag. In der Nacht auf Dienstag bin ich gegen 3 Uhr in Delhi gelandet. Der Flug war ok, ich war so in mein Buch vertieft, dass ich nicht einmal dazu gekommen bin, den Film Cyrano anzuschauen-der Film zu meinem letzten Stück, das ich im Theater betreut habe. Ich setze daher auf den Rückflug.

Ich bin nun glaub ich zum 6. mal in Indien, wenn man die 10 Monate mit kurzen Unterbrechungen für Visa als 1 zählt. Indien ist für mich besonders das Land der Extreme. Extrem laut, extrem voll, extrem scharf, extrem süß, extrem religiös, extrem ungerecht, extreme Familienstellungen.

Diese Eindrücke fangen auch eigentlich schon vor der Ankunft an. Im Flugzeug von Bahrain nach Delhi sind etwa 85% der Passagiere Inder und ich finde, das ist auch schon ein anderes Flugerlebnis. Woran mache ich das aus? Am Gate wurden mehrere Leute unabhängig voneinander weggeschickt, weil sie ein anderes Flugticket haben (Flugnummer und Ziel stimmten nicht überein). Beim Einstieg herrscht mehr Tumult, weil Großfamilien den Gang als idealen Ort für sich auswählen, um zunächst die optimale Sitzplatzverteilung auszudiskutieren. Im besten Fall erdreistet sich dann eine externe Person (ich) auf einen der Plätze zu wollen, der bereits von ihnen eingenommen wurde. Diese sture Person (immernoch ich) möchte sich nicht einfach irgendwoanders hinsetzen. Anmerkung: da treffen natürlich auch 2 Kulturen aufeinander. Die Kultur der Leute, die das Aufstellen und Befolgen von Regeln liebt (ich) und die Kultur derer, die Regeln eher für unverbindliche Vorschläge hält (nicht ich. Dafür vermutlich alle Nichtdeutschen). Dieser Kulturclash führt dazu, dass die gesamte Sitzplatzordnung neu eruiert werden muss. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als der Gang? Es ist ein Ort der Begegnung und Kommunikation. Und das ist doch prinzipiell was gutes. Weiter geht es mit dem Flug an sich. Während meine Herangehensweise zum Lösen des Problems ist, zunächst einmal verschiedene Optionen abzuwägen und gegebenenfalls meine Umgebung zu beobachten, hat ein großer Anteil meiner Mitpassagiere einen deutlich pragmatischeren Weg hierfür. Die Knöpfe, die Steward*essen rufen, werden in einer deutlich höheren Frequenz verwendet, als ich es von anderen Flügen gewohnt bin. Und wenn es nur darum geht, nachzuforschen, warum der Nebenmann bereits sein Essen erhalten hat und man selbst noch nicht (weil die Spuialanfragen, wie vegane Mahlzeiten zuerst verteilt werden). Der Knopf scheint keinen Filter zu haben, um nur bei wichtigen Problemstellungen auszulösen.

Angekommen in Delhi möchten mich etwa 20 Taxifahrer für den doppelten bis dreifachen Preis zum Gasthaus bringen,  aber ich habe Übung darin, sie abzuschütteln. Der Taxifahrer meiner Wahl (oder besser der Wahl der Station, bei welcher ich die Fahrt buche) ist nett und hält 4min nach Fahrtbeginn erstmal an einem kleinen Stand, um sich eine Zigarette zu kaufen. Unsere Unterhaltung ist relativ eintönig. In jeder zweiten Straße erwähnt er, dass Delhi so grün sei und ich antwortete, dass ich das toll finde (finde ich auch wirklich, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das, was wir auf der Fahrt ins Stadtzentrum sehen, wirklich repräsentativ für die gesamte Stadt ist). Ich habe auch versucht, etwas anderes zu sagen, aber seine Antwort lautete dann immer „ok no problem, mam“ und das widerum halte ich nicht für eine adäquate Antwort auf wirklich jede Aussage oder Frage. Daher blieb das Thema bei der Begrünung Delhis.

Im Gasthaus angekommen habe ich in der ersten Nacht (Spoiler, ich werde auch die zweite Nacht hier verbringen) ein Zimmer mit eigenem Bad, Doppelbett, Deckenventilator und Klimaanlage (!!!). Die ist allerdings auf 16° gestellt. Es gibt auch eine Fernbedienung, aber die scheint mir nicht zu dem Gerät zu gehören. Jedenfalls friere ich natürlich bei so viel kalter Luft und schalte sie aus. Vorerst hat es nur 38°, der Ventilator reicht mir.

Mein Kreislauf hat beschlossen, die Periode zum Anlass zu nehmen, sich erstmal auf ein Minimum an lebenserhaltenden Maßnahmen zu reduzieren.
Soll das ein reboot sein? Ich weiß es nicht aber was ich schnell merke ist, dass zu einem Minimum an Lebensfähigkeit scheinbar kein aufrechtes Sitzen oder Stehen gehört. Liegen ist also das neue Sitzen! Gut, dass ich das Buch im Flugzeug nicht fertig gelesen habe. Und dass das Internet zwischendurch doch auch mal funktioniert.

Heute früh war ich dann um 8 mit Naresh verabredet. Wir wollen zusammen backen. Wo bei das wir eher positiv ausgelegt ist. Ich backe an sich gerne, muss jetzt aber nicht umbedingt zu einer Zeit dafür aufstehen, die mein Körper aufgrund der noch europäischen Eichung für 4 Uhr morgens hält. Das war eh ein Abwägen. Naresh ist Inder und lebt in Indien, daher liegt die Vermutung nahe, dass er erst weit nach 8 Uhr kommen wird. Vielleicht gegen 11 Uhr? Andererseits arbeitet er seit Jahren für einen Deutschen (wobei Micha schon sein halbes Leben in Indien lebt, also zählt er rein kulturell garnicht mehr richtig als Deutscher) und muss sich da vielleicht ja auch an Zeitangaben halten. Naja, machen wir es kurz. Ich war um 5 nach 8 unten im Gasthaus, wo er mich abholen wollte. Um viertel nach habe ich ihm geschrieben, dass ich warte und um 20 nach kam seine Antwort, dass er gleich jemanden schickt, um mich abzuholen. Der kam dann um dreiviertel 9 und um 10 vor 9 war ich in der Bäckerei. Die ist seit meinem letzten Besuch umgezogen, weshalb ich sie nicht finden hätte können. Um 9 war dann auch Naresh in der Backstube. Es gibg also deutlich schneller, als ich erwartet hätte. Mein Auftrag war, mit ihm zusammen vegane und glutenfreie Brownies zu backen. Mit vegan kenne ich mich zwar mittlerweile echt gut aus und auch glutenfrei habe ich schon öfter ausprobiert. Aber es ist eine Herausforderung. Unsere erste Fuhre wurde sehr trocken und bröselig. Meiner Meinung nach war der Teig aber auch zu lange im Ofen. Außerdem verdächtige ich das Buchweizenmehl, mehr Wasser zu benötigen. Der nächste Versuch wurde mit Kichererbsenmehl gemacht. Da bin ich noch gespannt auf das Ergebnis. Da mein Kreislauf mitten beim Backen wieder eine Auszeit genommen hat, musste ich mich schnell hinlegen und habe das Resultat nicht mehr mitbekommen. Naja, gleich schaue ich wieder in der Bäckerei vorbei. Den Weg habe ich mir gemerkt, zum Glück wurde ich mit einen sehr guten Orientierungssinn ausgestattet. Außerdem habe ich hier immernoch kein Internet und mein Buch ist jetzt auch fertig gelesen. Da unterhalte ich mich lieber mit den Bäckern.

Die Idee war gut (außerdem war ich auch zum Mittagessen eingeladen. Yummi!), nur wollten sie mir Bescheid geben, wenn es fertig ist. Dabei ist nur problematisch, dass unsere Kommunikation internetbasiert ist und das im Gasthaus immernoch nicht funktioniert. Also bin ich so hin, aber die Bäckerei war abgesperrt und ich vermute, die Leute waren schon in der Mittagsruhe. Das machen sie zwar nur 1-2 Stockwerke drüber aber da ich als Ausländerin eh schon überqualifiziert im Bereich der Auffälligkeit bin, wollte ich nicht auch noch rufen oder laut gegen die Tür schlagen. Die Nachbarn haben eh schon neugierig geschaut. Müsste ich bewerten, wie diskret sie beim Tratschen über mich waren, würde ich ihnen wohlwollende 3/10 Punkten geben.

Eine Freundin hat vor kurzem erzählt, dass sie meine Mutter getroffen hat. Sie habe wohl Unverständnis dafür zum Ausdruck gebracht, dass ich bei den Temperaturen freiwillig nach Indien möchte. Mama ist da auch nicht die einzige mit den (zugegebenermaßen nicht abwägigen) Bedenken. Aber. Momentan ist Mango-, Melonen- und Litschisaison! Ich denke, damit ist klar, dass es quasi keinen besseren Zeitpunkt gibt. Und ich war schon fast ein wenig traurig, dass ich dieses Jahr erst einmal unser deutsches Hoheitsgemüse Spargel (gehört Spargel zum Gemüse?) gegessen hatte (danke Vio!). Aber was ist Spargel schon gegen das allerbeste im Obstsalat?
Jedenfalls bin ich wieder zurück im Gasthaus und habe auf dem Weg Litschis besorgt (1kg für 2€). Das war jetzt mein Mittagsessen. Das Frühstück war eine Mango (1kg für 1,80€). Mein Körper muss sich bei den ungewohnt angenehmen Temperaturen darauf einstellen, wieder Appetit zu bekommen. Scheinbar lautet die Devise in etwa „wir frieren nicht, also benötigen wir keine Energie“. Man würde ja meinen, dass der Körper dann eher signalisiert, dass eine Energiezufuhr wünschenswert wäre. Wie das mit dem Kreislaufshutdown zusammenpasst, mag sich mir noch nicht ganz erschließen.
Heute hat es übrigens 42°. In der Sonne ist es schon arg warm (ich friere nicht), aber ich bin ja auch nicht zum Ski fahren gekommen. Passt.

Ein Gedanke zu „2022, Tag 2

  1. Liebe Julia, ich finde es toll, dass du uns wieder an deiner Reise teilhaben lässt.
    Pass auf dich auf, deine Mama.

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