Ein neuer Abschied

Wie schön es ist, so spontan doch noch mehr Zeit zu haben! Finde ich super! Wir treffen Rani und Sadaff und fahren zusammen mit ihrem neuen Gast Emily aus Australien in die Berge und übernachten nochmal bei einer Familie dort. Es ist windig. Da ich meinen Wollmantel verschenkt hatte, habe ich nun garkeine Klamotten mehr für Temperaturen unter gefühlt 25°, sodass ich eine Sweatshirtjacke von Prachit bekommen habe. Sie ist schwarz und schaut etwas aus, wie Schaffell. Wir legen uns aufs Plateau und schauen noch lange in den Himmel. Es ist neblig und etwas bewölkt, sodass die Sterne kaum sichtbar sind. Und trotzdem ist es so schön friedlich. Wir hören nur den Wind. Ich habe das Gefühl, dass ich Teil dieser Ruhe bin und ich bin einfach zufrieden mit der Welt. Als ich schließlich aufstehe, hängt der halbe Berg an meiner Jacke. Das mit dem Hinlegen war wohl nur bedingt eine gute Idee. Außerdem stelle ich mit der Taschenlampe fest, dass ich direkt neben Kuhkacke lag. Manchmal ist es besser, nicht so genau zu wissen, was um einen rum ist.

Dann gehen wir die letzten Meter in die Hütte unserer Gastgeber. Die Hütten haben meist einen Kern von 2-4 Zimmern, welche die Aufenthaltsräume sind. Die sind größtenteils leer und beinhalten lediglich 1-2 Regale mit Kochutensilien oder anderem. Sie liegen ein wenig höher und haben Lehmboden. In der Nacht werden hier Plastikmatten (wie Bastmatten) aufgeschlagen und hier schläft die Familie. Nach außen hin sind dann auf jeder Seite ein großer Raum, in denen die Büffel übernachten und gefüttert werden. Außerdem leben die Kälbchen hier. Teils gibt es noch etwas erhöhten Vorraum, auf dem wir dann Abendessen und die Büffel ihr Fressen bekommen. Nachdem wir gegessen haben, wird ein Kartenspiel ausgepackt. Nur 1 m neben uns stehen die Büffel und käuen genüsslich wieder. Das ist ein Anblick, den ich süß finde, gleichzeitig aber auch skurril. Man lebt hier mit den Tieren zusammen. Ab und an haben sich ein paar Hühner in die Küche geschlichen und müssen verscheucht werden. Gekocht hat die 18-jährige Tochter mit der Mutter über einem offenen Feuer auf dem Lehmboden. Ich fühle mich wie in einem anderen Zeitalter. Wie unterschiedlich doch so ein Alltag an unterschiedlichen Orten der Welt ausschauen kann. Wenn ich koche, drücke ich auf ein paar Knöpfe, mit denen ich die Temperatur meiner Töpfe ziemlich genau steuern kann. Ich verwende viele verarbeitete Produkte, wie Nussbutter, Sojasauce, Kokosmilch, passierte Tomaten, Kichererbsen aus dem Glas. Hier sehe ich lediglich frische und getrocknete Produkte in der Küche. Getrocknete Kichererbsen, Linsen und Bohnen, Reis, Gewürze, frisches Gemüse. Kochen ist allein dadurch schon viel aufwändiger. Allein die Hülsenfrüchte einzuweichen und selber zu kochen. Und dann natürlich die Vielfalt an Dingen in einer Mahlzeit. Es gibt immer Reis mit Dal und dann noch ein Gemüse dazu, außerdem Chapati oder ähnliches Brot aus Reismehl. Da die Bauern in den Bergen ihre eigenen Reisfelder haben, schätze ich, dass ich hier meistens Brot aus Reismehl statt Weizen gegessen habe. Ich liebe das Essen. Es wäre mir viel zu umständlich, jede Mahlzeit so aufwändig zu kochen. Allein die Chapatis. Da verstehe ich schon, weshalb die Frauen oft Hausfrauen sind. Man kommt ja zu kaum was, wenn man allein 3x täglich mit aufwändigem Kochen beschäftigt ist. Und dann gibt es ja noch mehr Haushalt.

Am Dienstag fahren wir zu Ranis Eltern etwa 50 km entfernt Richtung Meer. Die Fahrt ist wie immer wunderschön. Ich bin mittlerweile großer Fan von Motorrädern! Prachits Familie hat 6 Stück und wir fahren die Tage mit einem anderen, das cooler ausschaut, aber leider etwas unbequemer zum Sitzen ist. Dafür hat es mehr Power. Prachit und ich hatten relativ schnell festgestellt, dass unser Musikgeschmack große Überschneidungen hat und so ist mein Job, Musik vom Handy abzuspielen. Wir singen lauthals mit und ich strecke die Arme in den Wind aus. Anfangs habe ich mich noch hinten festgehalten, weil ich etwas befürchtet hatte, bei einem Geschwindigkeitsbrecher (und die sind tückisch!) oder an Stellen mit schlechter Straßenqualität (auch davon gibt es einige) runterkatapultiert zu werden. Mittlerweile fühle ich mich auch ohne festhalten sicher. Es ist ein Gefühl großer Freiheit. Bei den Temperaturen ist der Fahrtwind einfach angenehm. Helme trägt man hier nicht und während der Fahrt zu telefonieren ist auch völlig normal. In Mumbai und Goa aber zB. trägt der Fahrer immer einen Helm, weil man sonst Strafe zahlen muss. Es hängt also von der Region ab.

Auf dem Weg zu Ranis Eltern erzählt sie uns, dass sie Hochzeitstag haben (34.) und wir besorgen noch eine kleine Torte zum Feiern. Bei ihnen angekommen freuen sich Mutter und Vater übermäßig, dass ihre Tochter so viele Gäste mitgebracht hat. Kurz später kommt auch der Bruder und es gibt Abendessen. Wir sitzen auf Plastikmatten auf dem Boden in einer großen Runde. Es gibt Fisch und Shrimps (?) und die Mutter hat nur für mich 2 Gemüsegerichte gekocht. Da bekomme ich schon ein schlechtes Gewissen, Rani bestätigt aber, dass das völlig normal und in Ordnung ist, etwas extra zu kochen. Zum Thema essen: wenn ich erwähne, dass ich Softdrinks nicht so gerne mag, weil die so extrem süß sind, dass mir auch der Tee zu süß ist, andererseits ohne Zucker aber nicht schmeckt und ich nicht so viel fettiges essen mag, bekomme ich oft erstaunte und bewundernde Aussagen. Darauf zu achten, sich gesund zu ernähren, ist hier meiner Erfahrung nach noch nicht so verbreitet. Prachit hat mir ein paar Tage nach unserem Miniaufenthalt in Mumbai erzählt, dass einer seiner beiden Cousins jetzt auch versuchen möchte, darauf zu achten. Für ihn war das offenbar ein neues Konzept. Das fand ich irgendwie schön. Auch Reis und Weizen zum Beispiel wird hier als sehr gesund gesehen und wenn die Leute erfahren, dass ich nicht ansatzweise täglich Reis konsumiere und das unter anderem damit begründe, dass wir in Deutschland glauben, dass weißer Reis nicht so gesund ist, sind die meisten erstaunt.

Anschließend wird die Torte angeschnitten und zur Feier des Tages singen wir Happy Birthday. Dann füttern wir uns gegenseitig mit kleinen Stücken (ich bin dann heute wohl vegetarisch unterwegs). Da Emily und Rani sehr müde sind, bereiten wir schon das Wohnzimmer mit den Plastikmatten vor und ich gehe mit Ranis Bruder Viki, dem Vater und Prachit noch eine kleine Runde spazieren. Viki hat vor ein paar Jahren das Vogel beobachten für sich entdeckt und macht uns ab und an auf bestimmte Rufe aufmerksam. Wir sehen mehrere Jackel (?), Tiere, die wie Wölfe in Fuchsgröße aussehen, einen Frosch und einen Flughund. Da Rani und Viki hobbymäßig Schlangen retten, bedauert Viki sehr, dass wir keine Schlange gesehen haben. Da kann ich glaub ganz gut mit leben.

Am Donnerstag gehen wir den Tag gemütlich an und unterhalten uns in der großen Runde. Ich singe irgendwann was vor, weil ich hier immer als Sängerin vorgestellt werde (seit ich erwähnt habe, dass ich gerne singe) und hier mittlerweile so oft vorgesungen habe, dass ich mich dabei nicht mehr unwohl fühle. Der Vater sagt, dass er gerne tanzt, spielt Musik vom Handy ab und tanzt uns spontan was vor. Das finde ich richtig schön hier. Man hat hier viel weniger Scham. Weder der Vater noch ich sind auch nur ansatzweise professionell und dennoch ist es für alle schön, wenn wir vorführen, was wir können. Zum Thema singen kommt mir gerade noch: einmal war ich mit Prachit auf dem Weg irgendwohin, als wir an einer Gruppe junger Männer vorbeigekommen sind, die er kennt und einer von ihnen hat erzählt, dass ein Junge heute Geburtstag hat. Da er auch den Jungen (8 Jahre alt) zu kennen scheint, machen wir spontan einen kleinen Abstecher, um zu gratulieren. Auf dem Weg kommt von ihm dann „kannst du mir bitte einen Gefallen tun und dem Jungen Happy Birthday singen?“ Ja, warum nicht. Die ganze Aufmerksamkeit ist dem Jungen offensichtlich noch unangenehmer, als mir das Singen vor der ganzen Familie einschließlich einiger Nachbarn, die neugierig rüberschauen. Das liste ich dann mal in der Reihe „Dinge, die ich im Alltag nicht tun würde “ mit auf 🙂

Am Nachmittag fahren wir nochmal ans Meer. Juhu! Wir schauen den Sonnenuntergang wieder von der gleichen Stelle aus an, wo ich auch letzte Woche mit Prachit war. Ich kletter ein wenig über die Felsen und irgendwann brechen wir dann auf und machen uns nach mehreren Zwischenstopps auf den Heimweg. Ab etwa 10 Uhr abends ist es dann doch ziemlich kalt und ich friere trotz der Schafjacke und Mütze. Zum Glück sitze ich hinten und bin dadurch noch geschützter. Prachit versteht nicht, wie ich frieren kann. Er friert nicht und ich komme aus Deutschland, da haben wir ja auch deutlich niedrigere Temperaturen. Seiner Meinung nach sollte ich die Temperaturen demnach noch angenehm finden. Dieses Rätsel wird sich in diesem Leben wohl nicht mehr lösen.  Wir essen alle gemeinsam bei Prachits Eltern Abend, mittlerweileist es schon halb 2 Uhr nachts. Um das abzuklären hat er 4x mit dem Vater telefoniert auf der Fahrt. Generell wirkt er mit seinen ganzen Telefonaten ein wenig wie ein Callcenterbetreiber auf mich. Ich erwähne irgendwann, dass er am Tag mehr mit seinen Eltern telefoniert, als ich in einer Woche. Dabei wohnt er ja bei ihnen (wenn er nicht gerade zur Arbeit in Mumbai ist). Dass ich so selten mit meinen Eltern telefoniere, beunruhigt Prachits Vater. Er fragt öfter mal, ob ich heute schon mit meinen Eltern telefoniert habe? Und wenn ich nein sage und erwähne, dass wir das auch nicht vorhaben und es völlig ok ist, hält er das für bedenklich. Täglich fragt er, wie es ihnen geht. Ja keine Ahnung, vor 2 Tagen ging es ihnen noch gut und falls sich das grundlegend ändert, werde ich es schon mitbekommen 🙂 Als er in einem spontanen Telefonat mit Papa und Oma die beidem zu Augen bekommt, ist er sehr beruhigt. Er bestätigt Papa immer wieder, dass der sich nicht um mich sorgen muss, weil er als mein indischer Vater gut auf mich aufpasse und sagt, dass ich eine gute Tochter sei. Ich mag ihn. Seine Eltern haben beide des öfteren gesagt, dass sie sich freuen, dass ich da bin, weil sie jetzt neben 2 Söhnen auch endlich eine Tochter hätten. Ich fühle mich so wohl hier. Generell unterhalte ich mich viel mit dem Vater. Er ist sehr wissbegierig und möchte mir gleichzeitig viel über seine Umgebung erzählen. Und es wird auch immer besser mit der Verständigung! Das freut mich wirklich.

Als ich am frühen Abend eine Runde spazieren gehen möchte, sind die Eltern irritiert. Warum ich denn nicht schlafen mag? Stattdessen auch noch laufen? Das finden sie suspekt. Heute ist mein letzter Tag in Indien. Ich habe heute früh mit Prachit den Sonnenaufgang am Stausee angeschaut, wir waren in der Innenstadt und nun fährt er Rani ins Krankenhaus, da ihr Bruder einen Motorradunfall hatte. Ich habe den Eltern versprochen, dass ich noch etwas für sie kochen werde, aber das hat noch Zeit. Die Landschaft ist so schön, dass ich einfach nochmal gerne eine Runde laufen würde. Nachdem mich die Mutter nicht von meinem Plan abbbringen kann, bietet mir der Vater an, mich zu begleiten. Das war eigentlich nicht der Plan. Gerade wäre ich gerne etwas alleine. Ich habe Tränen in den Augen und trage daher schon drinnen meine Sonnenbrille mit Kopftuch. Dass es hier so normal ist, sich auf diese Art vor der Sonne zu schützen, mag ich.  Manchmal kann man sich so auch etwas verstecken. Ich kann ihn leider nicht davon abbringen, mich zu begleiten und da er wohl nicht so viel laufen möchte, schlägt er fröhlich vor, mich auf dem Motorrad zu fahren. Ok, dann halt so. Immerhin kann ich dabei nicht mit ihm reden, da wir zumindest Gestiken für die Verständigung brauchen. Und ich brauche gerade Zeit zum Überlegen und zum Beruhigen. Prachit zählt mittlerweile zu meinen Freunden und wir sind auf einer Wellenlänge, weshalb ich es genieße, Zeit mit ihm und den anderen einschließlich seiner Familie zu verbringen. Aber womit ich mich noch immer schwer tue ist sein Zeitmanagement. Den Sonnenaufgang hätten wir zum Beispiel verpasst, wäre nicht ein Berg im Weg gewesen. Den ersten Flug hätte ich wegen ihm beinah verpasst. Generell ist er so ziemlich das Gegenteil und plant nicht gerne, sondern lässt die Dinge auf sich zukommen und schaut dann, was Sache ist. Das mag ich ja im Urlaub auch, aber halt auch nur begrenzt. Wegen der Sache mit dem ersten Flug erwartet sein Vater, dass mich Prachit zum Flughafen bringt. Dass ich mich um nichts kümmern muss. Was unheimlich lieb gemeint ist, macht mich aber ziemlich nervös. Mal wieder.  Mein Wissensstand: unser Nachtbus fährt um 21 Uhr und Prachit ist gerade mit Rani weggefahren und meint, er kommt in 2-3 h gegen 19-20 Uhr wieder. Die Bustickets habe er noch nicht (dabei hatte ich ihn so verstanden, dass er sie schon vor Tagen besorgt hatte). Er wisse, dass mich das jetzt vermutlich stresse und dass ich ihm bitte vertrauen soll, es würde alles geregelt. Ja das fällt mir schwer. Ich komme hier nicht alleine weg, ich habe hier mit meinem Netzbetreiber keinen Empfang und der Hotspot vom Handy seiner Mutter ist auch nur sehr mäßig hilfreich. Ich weiß, dass es mehrere Busse gibt und zur Not auch noch Züge, die bis 2 Uhr morgens nach Mumbai fahren. Es ist also auch noch Puffer vorhanden. Was mich fast noch nervöser macht, weil der dreiviertel Tag Puffer, den ich zuletzt geplant hatte ja auch voll ausgeschöpft wurde. Vor meinem inneren Auge verpasse ich den Flug. Aber es ist noch genug Zeit. Das versuche ich mir einzureden. Ich steige aufs Motorrad des Vaters auf und mir fällt ein, dass Prachit erzählt hat, dass er aufgrund irgendwelcher Medikamente nur noch 15% Sehkraft hat. Das trägt jetzt nicht so viel zu meiner Beruhigung bei. Bis wir nach Erreichen der Geschwindigkeit von geschätzten 15 km/h (die Tachos hier gehen alle nicht) nicht weiter beschleunigen und ich lachen muss, weil ich beinah fragen möchte, ob ich anschieben soll. Es ist also eher eine gemütliche Fahrt. Beinah könnte man Kaffee auf einer Tasse dabei trinken. Wir fahren gerade so schnell, dass wir nicht umkippen. An 3 Stellen halten wir und laufen ein paar Schritte. Jedes mal, wenn jemand vorbeikommt, stellt er wieder erstaunt fest, wie neugierig mich die Leute anschauen. Das nehme ich schon lange garnicht mehr wahr. Auf dem Rückweg sagt er, wir wären jetzt schon wieder ganz nah daheim und ich kenne den Weg. Ich sage, dass ich dann zumindest das letzte Stück laufen würde. Bis ich verstehe, weshalb er darauf beharrt, mich zu begleiten: er hat Angst, dass mir etwas passiert. Er sagt, hier in Indien ist er für mich verantwortlich, meine Elterm sind weit weg und deshalb passt er als zweiter Vater auf mich auf. Und die Leute schauen ja schon alle so, das sei ihm nicht geheuer. Ich sage, dass schauen kein Problem sei aber er lässt sich nicht abbringen. Ich bin gerührt. Und ein bisschen genervt. Eine gute Mischung aus beidem. Ich fühle mich in meiner Adoptivfamilie so wohl und bin extrem dankbar dafür, wie sie mich aufnehmen. Andererseits ist da noch der Teil in mir, der ein starkes Unabhängigkeitsbedürfnis hat. Da bin ich tausende Kilometer gereist, lebe in einer Familie, die ich vor kurzem nicht einmal gekannt habe, weiß nicht einmal wo ganz genau und dann soll ich nicht spazieren gehen, weil das zu gefährlich sei. Ein bissl grotesk das ganze. Der Teil in mir, der gerührt ist, überwiegt aber deutlich. Es ist einfach Balsam für meine Seele zu wissen, dass sich Menschen um mich sorgen. Und das sogar auch am gefühlt anderen Ende der Welt. In Schrittgeschwindigkeit fahren wir wieder zurück nach Hause. Und so bin ich doch froh, diesen kleinen Ausflug mit dem Vater gemacht zu haben. Unsere Unterhaltungen während der Spaziereinlagen haben mich abgelenkt und ich fühle mich wieder gut.

Es wird immer später, ich habe mittlerweile meinen Quinoasalat fertig vorbereitet und wir warten mit dem Essen auf Prachit. Ab etwa halb 9 sagt mir sein Vater immer mal wieder, dass er auf dem Weg sei. Das ist ja nett zu wissen, aber mich würde eher interessieren, wann er ankommt und wann wir weiterfahren. Ich bin angespannt. Ich bin nervös. Ich habe Prachit darin vertraut, meine Rückreise zu organisieren. Groß eine andere Wahl blieb mir auch nicht, denn ich komme nur mit einem Fahrzeug von hier weg. Außerdem beruhigt mich, dass der Vater sehr stark darauf bedacht ist, dass ich am besten schon am Mittwoch losfahre, um den Flug am Freitag zu bekommen. Er macht Prachit Druck. Es ist also wieder die gleiche Situation, ich weiß nichts und ich bin einfach nur wütend auf mich selbst, dass ich mich darauf eingelassen habe. Vielleicht, weil es bequem ist, sich um nichts zu kümmern, aber auch, um meiner Familie zu zeigen, dass ich ihnen vertraue und ihre Bemühungen um mich wertzuschätzen weiß. Mein Problem: laut meiner Info fährt der Bus um 9, wir haben noch keine Tickets (warum auch immer), ich weiß nicht, von wo die Busse fahren, weil sie an in meinen Augen willkürlichen Orten an der Autobahn halten, ich kann nicht nachschauen, wann Busse oder Züge fahren, weil ich kein Netz habe und der Hotspot gerade so für WhatsApp Nachrichten ausreicht. Ich kann mir kein Taxi rufen, weil ich weder eine Telefonnummer habe, noch marati spreche. Mir wird hier nur gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, alles wäre geklärt und ich würde meinen Flug bekommen. Ich versuche rauszufinden, was es ganz genau ist, das mich so verzweifeln lässt. Keine Kontrolle zu haben? Die völlige Abhängigkeit? Das Gefühl, dass ich nicht hätte vertrauen sollen? Dass hier jedes und alles wichtiger ist, als meine Bedürfnisse (das ist natürlich stark übertrieben)? Angst, den Flug zu verpassen habe ich keine, es wäre kein Weltuntergang. Es wäre ein finanzieller Nachteil, den ich mittlerweile wirklich vermeiden möchte, aber es wäre machbar. Das ist also nicht das eigentliche Problem. Ich kann es selbst nicht ganz ausmachen. Es ist 22:10 Uhr und da wir vorher am Bahnhof waren kenne ich den Weg dorthin. Ich schätze, es wird mich 2-3 h kosten, hinzulaufen, aber ich sehe das gerade als einzige Möglichkeit, wegzukommen. Die Mutter fragt, ob ich schonmal etwas essen möge. Ich bin wütend, ich bin angespannt und ich heule fast, nein. Essen möchte ich gerade wirklich nicht. Sie hat eines meiner Lieblingsgerichte gekocht, Kichererbsencurry. Sie weiß, dass ich Kichererbsen liebe und ist aufgebracht, weil ich nichts essen möchte. Ich übersetze über den Google Übersetzer in marati, dass es mir Leid tue, so zu gehen, aber ich gehe jetzt zum Bahnhof. Meine Taschen habe ich gepackt und ich bin der festen Überzeugung, dass dies der einzige Weg für mich ist, heute noch wegzukommen. Der Vater beteuert lachend, dass das nicht nötig wäre, Prachit komme ja gleich und dann bringe uns eine Autoriksha zum Bus. Da ich keine Maratitastatur habe beschränkt sich unsere Kommunikation wieder auf die verbale Ebene mit Gestik. Jetzt schaffe ich es nicht mehr, an mich zu halten und sage in meinen spärlichen Hindikenntmissen gemischt mit englisch mit laufenden Tränen, dass Prachit schon um 8 dasein wollte und jetzt 10 sei. Außerdem haben wir keine Bustickets. Der Vater versteht meinen Ausbruch nicht so sehr, die Mutter versucht derweil, mich zum Essen zu überreden und versteht auch nicht, was mit mir los ist. Ich solle mir keine Sorgen machen, es sei alles geklärt. Kein Problem. Ich zähle ihm auf, dass für mich das fehlende Busticket, der verpasste Bus, die Abwesenheit der Person, die mir versprochen hat, mich zum Flughafen zu bringen sowie meine fehlenden Maratikenntnisse ein Problem wären. Außerdem habe ich nicht mehr genug Bargeld, um ein Ticket zu kaufen und weiß nicht, wo die nächste Bank ist. Er ruft Prachit erneut an und sagt, dass dieser in 10 min da sei und dann fahren wir los. Da sie beide mit Pooja (dem Mädchen, das im Haushalt hilft) zusammen und mittlerweile auch dem Bruder auf mich einreden und mich zu beruhigen versuchen, beschließe ich, genau 10 min zu warten und dann zu gehen. Und tatsächlich kommt Prachit nach wenigen Minuten, die Autoriksha auch und wir fahren mit dem Vater zusammen zum Bus. Scheinbar haben wir doch Tickets und kommen 10 Sekunden vor dem Bus irgendwo mitten auf der Straße an. Es ist ein fancy Bus, wir haben Liegeplätze und bis auf meinen Ausbruch an Emotionen ist alles gut. Ich bekomme den Flieger locker, Prachit besorgt mir auf dem Weg noch etwa 10 kg Obst als Mitbringsel, weil er starken Mitleid mit uns Deutschen hat, mit dem kleinen Obstangebot.

Es ist schon irgendwie komisch, wie die Dinge kommen. Meine Überlegungen zur letzten Woche in Indien waren eigentlich, dass ich etwas Zeit alleine verbringe und spontan schaue, worauf ich gerade so Lust habe. Weil ich in Varanasi mit Priyankas Hochzeit busy war, in Delhi war der Christkindelsmarkt und in Goa fand ich es mit Mili schon auch anstrengend. Da habe ich mich darauf gefreut, die letzten Tage einfach noch mein Ding zu machen, ohne zu schauen, was andere von mir erwarten und für mich Dinge ohne Abstimmung organisieren. Das ist ja jetzt doch etwas anders. Genauer betrachtet ist es sogar so ziemlich das Gegenteil. Ich habe mich mit Rani, Sadaff und Prachit angefreundet und bin sogar eine Woche bei Prachit eingezogen und habe mit ihm nicht nur einen Freund, sondern mit seinen Eltern auch gleich eine Familie dazu gewonnen. Vor ein paar Jahren hätte ich mich vermutlich für verrückt erklärt, einfach spontan bei Leuten einzuziehen, die ich erst 2x getroffen habe. Aufs Land, wo ich darauf angewiesen bin, dass sie mich mit dem Motorrad mit irgendwohin nehmen, weil ich sonst erstmal eine Stunde in den Ort laufen müsste oder 2-3 h in die nächste Innenstadt. Ich glaube, dass ich besonders wegen solcher Erfahrungen so gerne nach Indien reise. Es gibt immer wieder schöne Überraschungen, die jede Reise aufs neue besonders machen. Und umso schwerer fällt es mir auch, das Land wieder zu verlassen und zurück ich meinen Alltag in Deutschland einzutauchen.

Ich bin pünktlich zu Weihnachten wieder in Deutschland und habe irgendwie doch einen kleinen Kulturschock. Ich treffe Freunde und verbringe Zeit mit der Familie. Schöne Dinge. Und doch fühle ich mich fehl am Platz.

Das war es erstmal wieder hier 🙂 danke fürs mitlesen und alles Liebe!

Julia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert