Karma vs. Darwin

Ich sitze in Milis Wohnung. Es ist Freitag Mittag und heute findet ein Hauspooja statt. Pooja ist eine religiöse Zeremonie. Das macht man im Tempel beim Beeten (ähnlich einem Gottesdienst) oder auch selber vor seiner Gebetsecke zuhause. Und heute kommt extra ein Geistlicher nach Hause, um so eine Zeremonie zu machen. Ich Ungläubige habe dann gefragt, zu welchem Anlass diese Feier stattfindet. Aber sie mussten auch ihre Mutter fragen, weil ihr Kenntnisstand von meinem in der Hinsicht scheinbar nicht  besonders abweicht ^^ Gerade hat mir Riya dann erklärt, dass heute der Todestag von einem Gott ist, zu dem der Familienvater in schweren Zeiten viel gebetet hat. Seitdem wird speziell er von der Familie verehrt.

Was mir an den Hindu-Göttern besonders gefällt ist, dass sie zumindest in einem Punkt bescheidener sind als der christliche Gott. Sie wollen kein totes Tier als Opfergabe, sondern freuen sich über Blumenketten. Auch Essen stellt man ihnen hin, aber nach ein paar Minuten, wenn sie fertig gegessen haben (so wurde es mir wirklich erklärt), kann man das selbst verspeisen. Was das Materielle angeht, fordern sie also weniger. Als einen Nachteil im Gegensatz dazu sehe ich aber die aktive Behinderung des Brandschutzes. Vor lauter Räucherstäbchen und anderen brennenden Dingen in Schälchen würde jeder Brandmelder besonders an so speziellen Tagen nach kürzester Zeit ein Burnout bekommen. Und auch noch brennende Streichhölzer werden auf den Boden fallen gelassen und sorgen so noch kurze Zeit für schönes Licht da unten. Auch weiteren Beobachtungen zufolge (ich habe echt nichts zu tun hier. Darf weder helfen, noch kann ich mich an der Konversation beteiligen) sind die Götter hier auch nicht so streng ihren Gläubigern gegenüber. Wenn der Cousin mitten während der Segnung anruft, telefoniert man halt währenddessen mit ihm. Mili ist dann dafür ins Nebenzimmer und der Geistliche ist ihr extra hinterher, damit er auch sie mit Wasser besprenkeln kann. Das scheint die Götter hier nicht sonderlich zu stören.

Gestern Abend war ich in der Bäckerei zum Abendessen eingeladen. Anish, der Chefbäcker kocht auch wunderbar und da ich ihn und Ashif schon 8 Jahre (wie die Zeit doch vergeht!) kenne, haben sie vorgeschlagen, zusammen Abend zu essen. Da sage ich jedenfalls nicht nein! Nach dem Essen haben sie auch vorgeschlagen, dass ich Micha doch mal fragen soll, ob ich nicht in seinem Gästezimmer wohnen kann. Michas Wohnung befindet sich im gleichen Gebäude und die Tür geht direkt von der Bäckerei ab. Anish findet, dass ich da wohnen sollte, immerhin kann er dann immer für mich mitkochen und ich muss nicht ins Restaurant. Lieb, dass er dafür das Gästezimmer seines Chefs zur Verfügung stellen würde 😀 aber mittlerweile mache ich eine Art Restaurant-hopping. Jede Mahlzeit nehme ich bei anderen Bekannten ein und es fällt mir nur sehr schwer, meine*n Lieblingskoch*in zu küren. Dafür muss ich wohl noch etwas weitertesten 😉

Heute habe ich erstmal ausgeschlafen, nachdem die Nacht doch ziemlich warm war. Von 45° tagsüber kühlt es nur noch auf 29° ab. Mittagessen gab es dann bei Meena und ihren Kindern Adit und Shrea. Sie hat Cheela gekocht, das sind Kichererbsenpfannkuchen. Ich liebe Kichererbsen. Perfekt. Wir haben einen Pakt, sie bringen mir mehr hindi bei (die Zahlen kann ich, schließlich muss ich verhandeln können. Sonst aber nur die basics, verstehen tu ich etwas mehr) und ich ihnen deutsch. Sie freuen sich, eine Geheimsprache zu lernen, auf der sie sich unterhalten können 😀 mein Ansatz ist eher das Gegenteil. Ich hätte gerne, dass mich auch die Leute verstehen, die kein englisch können. Wie die Eltern einiger Freunde. Sie reden ständig auf hindi auf mich ein. Meine Vermutung ist, dass sie so die Wahrscheinlichkeit erhöhen wollen, dass irgendwann ein Wort dabei ist, dass ich verstehe. Die Erfolgsquote ist bisher noch nicht im zufriedenstellenden Bereich.

Auf dem Rückweg von Meena habe ich bei Nitin auf einen Zitronentee vorbeigeschaut, dann habe ich Mili getroffen. Sie ist mit Priyanka die einzige hier, mit der ich vollkommen offen über alles reden kann. Von ihr lerne ich sehr viel über ihre Kultur und sie über unsere. Ich lerne zB. von Dingen über die arrangierte Ehe und Gräueltaten von Schwiegerfamilien, die ich aus rein egoistischer Sicht (zum Erhalt meines Seelenfriedens) lieber gar nicht wissen mag. Ich lerne zu schätzen, wie frei ich bin und wie viel Kontrolle ich über mein eigenes Leben habe. Ein Privileg, dessen ich mir immer wieder bewusst werden sollte. Sie lernt von mir zum Beispiel, dass Pünktlichkeit für mich ein hohes Gut ist. Heute war der Grund für ihre knapp zweistündige Verspätung, dass der Freund ihrer Schwester da war und sie nicht für ihn mitgekocht hatten. Demnach musste sie warten, bis er weg ist, damit sie essen kann. Sonst hätte es die Gastfreundschaft schließlich geboten, ihm eine Menge aufzutischen.

Zum Schluss für heute noch eine kurze Anekdote über den Abend. Wir sind nach Assi Ghat gelaufen, das ist die Touristenhochburg Varanasis. Hier sind momentan 4 Fahrgeschäfte aufgebaut, eine Art Miniplärrer. Meenas Kids haben sich total darauf gefreut und deshalb habe ich zugestimmt, mitzufahren. Ich möchte ja auch nicht die Ausländerin sein, die den indischen Standards nicht traut. Spoiler: in Zukunft werde ich die Ausländerin sein, die den indischen Standards nicht traut. Zuerst sind wir Riesenrad gefahren. Da dachte ich ja erst gut, ist zwar langweilig aber immerhin bekommt man vielleicht eine nette Aussicht. Joa. Nachdem nach und nach alle eingestiegen sind, wurde das Teil extrem beschleunigt und wir sind dann etwa 10 Runden gefahren. Beruhigend habe ich zur Kenntnis genommen, dass die Leuchtreklame fachmännisch mit Paketband montiert war. Außerdem haben die Wagons keine Türen. Bei der Geschwindigkeit schwingen die schön hin und her und wenn ich eines von meiner Masterarbeit gelernt habe, dann dass schwingende Belastungen nicht umbedingt die Belastungen sind, denen Stahl am besten stand hält. Naja, immerhin wäre es ein schöner Tod. Meena, Adit und Shrea waren ausgelassen am Lachen und das steckt ja an. Die nächste und dann auch schon letzte Station war eine große Schiffsschaukel. Als wir gerade saßen und es losging, kam der Typ in mein Sichtfeld, der das ganze antreibt. Er schiebt einen Hebel und zieht gleichzeitig an einem Strick, das etwa 4 m weiter zu einem Motor geht. Schnell wurde auch klar, dass man sich wirklich gut festhalten muss, wenn man nicht rausfallen mag. Mir war nicht bewusst, was mir die 80 ct für ein Erlebnis bieten würden. Jochen Schweizer hat da sicher noch eine Menge Potential. Inder setzen zudem wohl auf Darwin und seine Evolutionstheorie. Die Stärkeren und so. Wir Deutsche finden ja immer wieder Wege, Darwin zu umgehen. Medizinische Versorgung, Regeln, Sicherheitsvorkehrungen ohne Ende. Wir sind scheinbar ein Volk, das nicht nur die Muskelpakete und oder super schlauen der Gesellschaft gern bei sich hat. In der Hinsicht folgt die indische Bevölkerung aber offensichtlich anderen Werten. Die natürliche Selektion wird nicht nur akzeptiert, sondern durch so Spektakel wie die Schiffsschaukel noch aktiv beschleunigt. Oh, du hältst dich nicht richtig fest? Schade. Alternativ kann man natürlich auch die Theorie aifstellen, dass man hier ja ans Karma glaubt und demnach vielleicht einfach weniger „unnötige“ Sicherheitsvorkehrungen trifft, wo Karma das mit dem Leben oder Tod schon entscheiden wird. Die Theorie ist aber langweiliger, also halte ich mich an die erste 😀 Da wären wir wieder bei diesen vollkommen objektiv analysierten kulturellen Differenzen.  Es ist witzig hier. Manchmal beängstigend (rein auf Sicherheitsstandards oder Schwiegertöchter bezogen). Aber für mich größtenteils witzig.

Das war es dann auch schon fürs Wochenende. Grüße von weit her!

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