Vernunft über Bord

Ich schreibe mal wieder vom Zug aus. Diesmal allerdings nicht vom Nachtzug, sondern es ist ein Zug, der nur Sitzplätze hat. Die ca. 440 km sollen wir in etwa 7 Stunden zurücklegen – ich fahre von Astana nach Pavlodar.

Bin also gut in Astana angekommen, mit dem Flug hat alles wunderbar funktioniert. Außer natürlich, dass ich um 3 Uhr nachts dafür aufbrechen musste und entsprechend Schlafentzug habe. Ich verlasse also den Flughafen und bin auf dem Weg zur Bushaltestelle. Und stelle fest, es hat 12° und regnet. Für dieses Wetter bin ich wirklich nicht so weit gereist, da habe ich ja mal überhaupt garkeine Lust drauf. Ich war erst letzte Nacht auf die Idee gekommen, nach der Wettervorhersage für Astana zu schauen und hatte auch da schon festgestellt, dass wetter.com nicht gerade mein Wunschwetter vorhersagt. Auf der einstündigen Busfahrt in die Innenstadt suche ich ein günstiges Hostel raus, schaue, schaue wo man von Astana aus gut mit dem Zug hinkommt und wo das Wetter besser ist. Ich komme im Hostel an und buche für den Abend direkt einen Zug nach Pavlodar (Richtung russische Grenze im Nordosten). Meinen ursprünglich Plan, mit dem Bus weiter in einen Naturpark zum Wandern zu fahren, verwerfe ich aufgrund noch schlechterer Wettervorhersage. Zumindest vorerst. Stattdessen bin ich gespannt, ob es was interessantes in Pavlodar gibt. Wenn nicht, fahr ich halt wieder zurück. Zumindest konnte ich online ein Hostel und einige weitere Unterkünfte finden. Ich hatte nicht damit gerechnet, so schnell eine Alternative aufzutun, eigentlich hätte ich mir das Hostel auch sparen können. Aber jetzt bin ich schonmal da und es gibt Betten. Das überzeugt. Im Tante-Emma-Laden nebenan hole ich mir Ramen (ich bestelle mit meinen umfangreichen Russischkenntnissen und bin sehr stolz, dass es gut klappt), frühstücke die zusammen mit etwas Fladenbrot und lege mich schlafen. 2,5 Stunden später klingelt mein Wecker und ich breche auf zum Bahnhof. Der Schlaf hat sehr gut getan, ich bin froh, dass ich den noch mitgenommen habe. Die Sonne scheint und mittlerweile hat es 17°. Ok, so schlimm ist das Wetter vielleicht doch nicht. Aber das Ticket ist gekauft und ich fahre da jetzt hin 😀

Die Zugfahrt ist sehr angenehm. Es ist relativ leer, sodass ich nach etwa einer Stunde mit 2 älteren Damen gegenüber nun eine 6-Sitzer-Einheit für mich alleine habe. Ich lege mich auf einen Dreiersitz und es riecht nach Melonen. Mich beschleicht der Verdacht, mal wieder einen Melonendeal verpasst zu haben. Später sehe ich, wie ein Mann mit 2 riesigen Melonen aussteigt. Die Menschen hier müssen Melonen echt sehr gerne haben. Bisher habe ich in jedem Ort welche zum Kauf gesehen und dennoch fährt ein auffällig hoher Anteil meiner Mitpassiere mit einem meiner Meinung nach ungewöhnlich großen Melonenvorrat durch Kasachstan. Das Melonen-Passagier-Verhältnis in kasachischen Zügen liegt eindeutig außerhalbder Norm. Irgendwann kommt ein junger Mann vorbei und fragt, ob er sich zu mir setzen darf, denn er würde gerne sein englisch verbessern. Er ist sehr freundlich und ich habe außer meinen Melonengedanken nicht wirklich besseres zu tun in den nächsten Stunden. Also klar. Er heißt Dschingis Khan, studiert Jura und wir tauschen uns ein wenig über Familien, Orte und Themen aus, die uns gerade einfallen. Er kommt aus der Nähe von Pavlodar und muss wegen irgendwelcher Dokumente heim fahren. Er gibt mir noch Tipps, wo ich in der Umgebung von Pavlodar vorbeifahren könnte, es sind Seen mit Hügeln, vielleicht wird das also doch noch was mit wandern. Ich habe mir die Orte auf jeden Fall abgespeichert und werde versuchen hinzufahren. Seit etwa einer Woche habe ich mich nun so richtig ins Reisen eingefunden, einen Eindruck der Kultur erhalten und fühle mich richtig wohl in meinem Backpackerleben. Hach, reisen ist einfach schön. 3 Stunden vor mir steigt mein neuer Zugfreund leider wieder aus, sodass ich etwa 10 min alleine bin, bis ein Schaffner vorbei läuft und ich ihn frage, ob es hier irgendwo heißes Wasser für Tee oder Ramen gibt. In den Nachtzügen gibt es das und ich dachte, fragen kann man ja mal. 2 min später sitze ich mit den Schaffnern zusammen am Tisch,  sie machen mir mit ihrem Schaffnerwasserkocher Wasser warm und geben mir Tee und Schokowaffeln (zumindest das Ei und Brot zur Suppe konnte ich ausschlagen, aber bei Tee hört der Spaß auf). Einer der 3 spricht ein wenig englisch und darf dolmetschen. Es ist eine witzige Runde, kurz später verabschiede ich mich aber wieder. Ihr englisch ist erschöpft, mittlerweile haben wir halb 12 und ich werde müde. Da ist meine Motivation, mich extra anzustrengen, eine Konversation aufrecht zu erhalten eher gering ausgeprägt. Jetzt dauertes eh nur noch eine Stunde, bis wir schließlich in Pavlodar ankommen.

Ich liege völlig aufgedreht im bequemen Bett meines Hostels. Das war mir jetzt doch zu viel Abenteuer. Der Reihe nach.

Ich komme am Bahnhof an und laufe gemeinsam mit den anderen, wenigen Passagieren aus der Bahnhofshalle raus auf den Vorplatz. Von den Mitarbeitern meines Hostels weiß ich, dass ein Taxi etwa 600 Tenge kostet, außerdem sollen es zu Fuß nur 20 min sein. Das mit den 20 min kommt mir komisch vor, denn weder Google Maps, noch 2gis kennt einen Weg, der mich so schnell ans Ziel führt. Da die Taxifahrer 2000 Tenge von mir wollen und sich nur auf 1000 runterhandeln lassen, beschließe ich loszulaufen und auf dem Weg Autos ranzuwinkem. Es ist eine Frage des Prinzips, ganz klar. Das ist hier eine gängige Methode. Quasi trampen, aber man bezahlt dafür. Ich folge dem Wegvorschlag von 2gis und bin etwas irritiert, dass der Weg eine nicht beleuchtete Matsch-„Straße“ ist. Laufe ein Stück, da ich glaube, dass mich dieser Weg nach kurzer Zeit wieder auf eine richtige Straße führt. Schließlich würde ich gerne ein Auto anhalten und hier ist absolut niemand unterwegs. Wobei das nicht ganz stimmt, denn es laufen 2 bellende Hunde rum. Hunde, die erst von mir weglaufen und aber plötzlich durch einen Sinneswandel um mich herum und nicht besonders freundlich scheinen. Ich liebe Hunde aber die machen mir tatsächlich etwas Angst. Sie schreckt es ab, wenn ich meine Handytaschenlampe auf sie richte und meine Stimme etwas erhebe. Ich laufe schnell weiter, da sie sich entgegen meiner Laufrichtung entfernen. Ich komme an die Kreuzung, von der ich dachte, es sei eine richtige. Nope. Matschkreuzung im Nirgendwo. Um mich herum Gebüsch. Gut, an dieser Stelle würde ich dann eigentlich umdrehen, wären da nicht die Hunde. Denen möchte ich nicht nochmal begegnen. Also weiter. Laut 2 gis soll ich jetzt die Gleise überqueren. Hier ist aber keine Brücke oder ähnliches. Was bedeutet, dass ich nachts um 1 alleine mit meiner Handytaschenlampe in der einen und meinem Hut in der anderen Hand über ein etwa 20 m breites Gleisbett mit etlichen Gleisen steige. Ist nicht unbedingt mein präferierter Weg aber an dieser Stelle muss ich meine Ansprüche wohl runterschrauben. Dabei hilft zumindest zu wissen, dass die Züge recht langsam unterwegs sind und dieser Abschnitt der Gleise ist zudem beleuchtet. Von den Gleisabschnitten Kasachstans habe ich mir damit also vermutlich noch einen guten zum Überqueren ausgesucht. Auf der anderen Seite angekommen finde ich zum Glück schnell einen Weg, der mich zu einer großen, befahrenen und beleuchteten Straße bringt. Leider hält keins der vorbeifahrenden Autos an. Ich beschließe also, zur nächsten Tankstelle in ca. 50 m Entfernung zu gehen und dort jemanden um Hilfe zu bitten. Heute arbeitet Clavdia an der Tankstelle. Sie spricht kein englisch, wartet dafür aber geduldig, bis ich meinen kurzen Text in den Übersetzer eingegeben habe, in dem ich erwähne, dass ich mich auf dem Weg zum Hostel verlaufen habe (dieser „Weg“ ist seines Namens zumindest zu dieser Tageszeit wirklich nicht würdig) gerne ein Taxi rufen würde, aber die App auf meinem Handy nicht nutzen kann (ist eine russische App, ich vermute, es liegt an den Sanktionen). Und sie daher bitten möchte, für mich ein Taxi zu rufen. Sie nickt, holt ihr Handy und ich gebe ihr die Adresse. Dann sagt sie tschüss und verschwindet wieder im Inneren ihrer Tankstelle. Ich frage noch einmal, was die Fahrt denn koste und stelle fest, dass sie sich ekne Jacke holt, um draußen mit mir zu warten. Sie hatte zuvor durch ein kleines Fenster mit mir gesprochen. Wir stehen zusammen draußen und fangen ein wenig an, uns zu unterhalten. Ich bin noch etwas gestresst, weil mir der Weg zu ihr im Nachhinein doch Angst macht. Im Moment habe ich zwar mit mir selbst gesprochen und versucht mir einzureden, dass alles gut sei. Aber jetzt, wo ich ja erstmal sicher bin, wird mir sehr bewusst, dass ich diesen Weg überhaupt nicht in Ordnung fand und mich auch nicht wohlgefühlt habe. Noch bin ich aber auch noch nicht im Hostel und gemäß der App scheint der Fahrer sich nicht von der Stelle zu bewegen. Wir unterhalten uns weiter, ich erzähle, dass ich Touristin aus Deutschland bin. Ich bin ihr sehr dankbar, auch dafür, dass sie gemeinsam mit mir draußen wartet. Da fällt mir ein, dass ich noch ein Armband habe, welches ich von einem der Tanzmädels bekommen hatte. Es ist mir viel zu groß und so beschließe ich, es meiner neuen Tankstellenfreundin zu schenken. Sie freut sich sehr und lädt mich kurz später auf einen Kaffee drinnen ein. Sie sperrt die Tankstelle auf und ich darf mir am Automaten einen Kaffee aussuchen. Kaffee ist zusammen mit alkoholischen Getränken wohl das letzte, dass ich nachts um halb 2 jetzt gerne trinken würde, aber ich möchte die Geste nicht ausschlagen. Da mir Kaffee nicht schmeckt und ich einen schwarzen auswähle, bediene ich mich noch ordentlich am Sirup. Top. Kaffein und Zucker mitten in der Nacht, so habe ich mir das vorgestellt. Wir machen Selfis und tauschen unsere Instagram-Accounts aus, bis sie einen neuen Fahrer bestellt und dieser tatsächlich nach 2 min da ist. Clavdia ist meine Heldin des Monats.

Die Fahrt kostet 570 Tenge und somit fällt der Lerneffekt meiner nächtlichen Prioritätensetzung im Kampf zwischen Vernunft und Prinzipien etwas geringer aus, als er vermutlich sein sollte. Ich bin im Hostel, die Mitarbeiterin ist sehr lieb und nach einer Dusche liege ich im frisch bezogenen Bett. Clavdia hat mir noch geschrieben und gefragt, ob ich gut angekommen sei. Mittlerweile haben wir 3 Uhr morgens und ich liege hellwach im Bett. Ich schätze, morgen mache ich einen entspannten Tag.

Ich hänge zur Veranschaulichung noch ein Bild der Stelle an, an der mein Weg vor den Gleisen endete:

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