(Fast) verpasst: von Zügen und Melonen

Ich fühle mich overdressed. Das kommt nicht häufig vor in meinem Leben. Vor allem nicht, wenn ich auf Reisen bin, da bin ich eher konsequent underdressed. Ich liege auf meinem Platz (diesmal auf dem richtigen, das wurde mir mehrfach bestätigt) im Nachtzug nach Shalkar und trage eine lange, dünne Hose und ein T–Shirt. Es passt einigermaßen zusammen, aber es ist jetzt auch nicht so, als könnte man das nicht leicht toppen. Aber tatsächlich tragen die meisten meiner Mitfahrer*innen einen Pyjama. Und mit Pyjama meine ich so richtig zusammenpassende Zweiteiler. So etwas befindet sich nicht einmal in meinem Besitz. Wenn man es genau bedenkt, bin ich vielleicht doch eher underdressed. Ich in meiner Alltagskleidung.

Als ich noch am Bahnhof auf meinen Zug gewartet habe, fand ich einen Mann ziemlich aufdringlich. Aber glücklicherweise kamen da gerade auch 4 Reisende an, denen ich die Tage schon beim Einkaufen begegnet war. Zwei Mütter mit ihren Kindern (~7J und ~11J), die deutsch sprechen. Sie haben mich zu sich hergewunken (ich bin ihnen sehr dankbar für die Aufmerksamkeit) und so war ich den Typen los. Leider haben sie einen Zug vor mir genommen, weshalb sie auch gleich wieder weiter sind. Aber den Rest der Wartezeit konnte ich dann trotzdem wieder in Ruhe verbringen. Ruhe – etwas, das ich hier eher zu viel als zu wenig habe – ist mir dann doch lieber, als blöd angemacht zu werden.

Ich drehe mich von Seite zu Seite und fühle mich wie ein Dönerspieß. Ich liege auf einem oberen Gangplatz. Was zur Folge hat, dass ich direkt an einem Fenster liege. Und uns trennt zwar ein roter Vorhang, aber der strahlt ganz schön gut Wärme ab. Es werden abwechselnd mein Hintern und Bauch gut gewärmt. Ich versuche zwar, mir einzureden, dass es wie eine Wärmelampe ist und Wärme mag ich ja. Aber in dem Fall bin ich nur semi begeistert. Die Liege ist etwa 50 cm breit und 1,80 m lang. Die Matrazenauflage ist allerdings etwas breiter und scheinbar liege ich unvorteilhaft, denn ständig rutsche ich. Vielleicht liegt es auch an meinen Dönerspießdrehungen, jedenfalls ist das hier gerade nicht so ideal. Kurz vor meiner Abfahrt habe ich mir noch ein paar Podcastfolgen runtergeladen und ich beginne mit einer. Die Reihe heißt „Are you Garbage“, es werden amerikanische Comedians interviewt und ich finde es extrem nervig. Das ist eine Antiwerbung, hört euch das nicht an. Aber immerhin reden sie auf einer Sprache, die ich verstehe und so lasse ich es laufen. Irgendwie fühle ich mich damit weniger allein unter all den Leuten um mich herum.

Und dann sind da wieder diese kleinen Momente, die für mich das Reisen reisenswert machen. Eine ältere Frau, Sonia, kommt vorbei und unterhält sich ein wenig mit mir. Fragt, wo ich herkomme, was ich mache, ob ich verheiratet sei. Sie spricht recht gut englisch und es ist mir eine Freude, mich mit ihr zu unterhalten. Wie viele Leute hier, kann sie ein paar Brocken deutsch. Ihr Brocken beinhaltet den Satz: „Wie viel kostet eine Flasche Wein?“, eine Freundin habe ihr den Satz beigebracht. Irgendwann verabschiedet sich meine neue Zugbekanntschaft wieder und schon taucht der Kopf meiner lächelnden Liegenachbarin (sie liegt unter mir) auf und sie hält mir ihr Handy hin, wo sie extra auf deutsch übersetzt hat, ob ich mich setzen möchte, dann baut sie ihr Bett wieder in eine Sitzbank mit Tisch um. Ich finde das Liegen aber angenehmer und unterhalten könnte ich mich auch nicht mit ihr, also verneine ich dankend. Am Nachmittag laden mich andere Liegenachbarn zum Tee trinken ein. Das ist sehr lieb, nur leider finde ich grünen und schwarzen Tee scheußlich und sie sprechen kein einziges Wort englisch. Ich kann ihnen auf russisch aber nur erzählen, dass ich Julia heiße, aus Deutschland komme und ein paar willkürliche Dinge benennen (zB. „Das ist eine Katze“). Leider sind hier aber keine Katzen (oder Hunde). Ab und an sieht man Pferde (vielleicht sogar wilde Pferde?) in der Steppe. Aber ich weiß auch nicht, was Pferd heißt. Meine Kommunikationsfähigkeiten sind etwas beschränkt. Ab und an halten wir an Stationen, wo wir ~20 min stehen und man sich Essen und Getränke am Bahnhof kaufen kann. An einer solchen Station steigt beinah der ganze Zug aus und kauft sehr, sehr viele Melonen. Die Leute steigen mit 3-4 Melonen pro Person ein. Wassermelonen (sehr große) und die anderen schauen aus, wie Honigmelonen, nur sind sie so groß, wie die Wassermelonen). Mich beschleicht der Verdacht, einen sehr, sehr guten Deal verpasst zu haben. Falls ihr mal nach Kasachstan kommt: die Station war Chieli.

20 Minuten später. Sonia taucht wieder auf. Juhu! Diesmal zusammen mit einem jungen Mann, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Er ist 18, fährt in ihrem Abteil und spricht ein klein wenig englisch, weshalb Sonia entschieden hat, dass er die Gelegenheit am Schopfe packen und mit mir üben sollte. Und er hat offenbar nichts dagegen, vielleicht kommt ihm die Abwechslung auf der Zugfahrt auch entgegen. Sie fahren nämlich von Almaty (16 Zugstunden vor Turkestan) nach Uralsk (~32 Zugstunden nach Turkestan) mit dem Zug durch. Ein paar junge Mädels in der Nähe hören auch etwas zu und ihnen wird übersetzt. Die Mädels waren auf einem Tanzwettbewerb und haben Pokale dabei, mindestens eine von ihnen hat den ersten Platz belegt! Sie zeigen mir ein Video, wie eine von ihnen einen klassischen, kasachischen Tanz aufführt und damit den ersten Platz belegt. Wir unterhalten uns noch länger, bis wir gegen 11 Uhr schlafen gehen. Diese Nacht schlafe ich wie ein Stein. Zur Sicherheit stelle ich meinen Wecker auf zwei Uhrzeiten, denn ich fahre in eine andere Zeitzone und bin mir unsicher, ob mein Handy rechtzeitig die neue Zeitzone übernimmt (weil streckenweise ja wirklich garkein Netz vorhanden ist). Ich weiß auch nicht, wo die Grenze der Zeitzone ist, und wie das genau funktioniert mit dem Handy. Als ich mit dem ersten Klingeln über die Ortung von Google maps feststelle, dass wir noch ein gutes Stück von Shalkar entfernt sind, bleibe ich aber noch liegen und stehe mit dem 2. Klingeln eine Stunde später auf. In Erinnerung an den gestrigen Abend wache ich mit einem Lächeln auf. Für den Fall, dass ich liebe Leute kennen lerne und ihnen ein kleines Dankeschön geben möchte, habe ich einige Tafeln Schokolade und andere Snacks aus Deutschland im Gepäck. Und davon habe ich noch ziemlich viel über, weshalb ich beschließe, Sonia und dem Kerl sowie den Tanzmädels etwas zu geben. Sonia finde ich einen Wagon weiter, sie schläft noch. Ich schreibe ihr einen kurzen Zettel und hinterlasse ihn mit der Schokolade auf ihrem Tisch. Ein paar der Mädels sowie ihre Trainerin sind schon wach, ihnen gebe ich auch einige Tafeln. Sie freuen sich sehr und geben mir als Andenken ein paar Münzen ihrer Währung und zwei der Mädels schenken mir ihre Armbänder. Und dann sind wir auch schon an meiner Endstation angekommen und winken zum Abschied. Das war eine schöne Zugfahrt.

Ich bin am Bahnhof und hatte zuvor auf Google maps gesehen, dass ganz in der Nähe ein See ist. Mein Plan ist, mich samt Gepäck an den See zu setzen und dort die 5 Stunden bis zum Anschlusszug zu überbrücken. Eventuell mit Zwischenstopp in einem Restaurant oder Cafe. Auf dem Weg zum See merke ich schon, dass ein ganz schön kalter Wind geht. Zum Glück trage ich in den Wandersandalen noch Omas Wollsocken. Angekommen am See stelle ich fest, dass mir trotz Wollschal, den ich zur Decke umfunktioniere, zu kalt ist. Die Restaurants und Cafes haben noch geschlossen, also laufe ich zurück zum Bahnhof. Für den Weg werfe ich mir den Schal als Kopftuch über und ziehe den Hut darüber. Mein Outfit ist heute wirklich schwer zu toppen. Beinahe würde ich so weit gehen und mich als Trendsetter bezeichnen. Zumindest setze ich hier ganz bewusst ein modisches Statement! Am Bahnhof finde ich ein Cafe und frühstücke zwei frittierte Brote mit Kartoffelfüllung und Tee. Dann stehe ich eine Weile in der Bahnhofshalle rum, weil hier mitten an einer Wand eine Steckdose liegt und ich mein Handy laden kann. Etwas später stehe ich wieder hier, um vor meiner Weiterfahrt in einer Stunde nochmal den Akku voll aufzuladen und telefoniere mit einer Freundin. Nach etwa 4 min fragt mich ein Polizist via Google Übersetzer, was ich hier mache und nachdem ich ihm mein Zugticket zeige, deutet er mir gestresst, dass der Zug, der schon eine Weile hier steht, meiner sei, schnappt sich meinen Rucksack und rennt zum Zug. Ich hole meinen großen Rucksack und humple mit dem schweren Teil hinterher. Eine Schaffnerin öffnet dem stürmisch klopfenden Polizisten glücklicherweise eine Tür und erklärt mir gleich 4x, dass ich in Wagon 1 sei und mein Platz in Wagon 3 ist. Ich schätze, sie geht aufgrund meines Verharrens (aka Zusammenpackens) davon aus, dass ich hier in der Tür Wurzeln schlagen möchte. Als ich aufbruchbereit bin, bestätige ich ihr, dass ich in Wagon 3 gehe und finde kurz später auch schon meinen Platz. Ich bin immernoch verwirrt. Ich hatte extra gegoogelt, welche Zeit in Shalkar ist und dort wurde mir angezeigt, dass wir 12:30 Uhr und nicht 13:30 Uhr haben. Weshalb ich davon ausging, dass mein Handy noch die alte Uhrzeit drin hat. Entweder bin ich also doch nicht in einer anderen Zeitzone, Google zeigt die falsche Zeit, ich habe Denkfehler, oder der Zug fährt eine Stunde zu früh. Naja, ich habe auch schonmal beinahe meinen Flug verpasst, obwohl ich schon einige Stunden am Gate war. Irgendwie klappt dann doch immer alles. Meine direkten Sitznachbarn sind Yasmin, ein etwa 5-jähriges Mädchen mit ihren Eltern und Großeltern. Sie steigen auch in Aktau aus, was mich beruhigt – so verpasse ich den Ausstieg bestimmt nicht. Mit Yasmin reisen auch ihre 2 Barbies und sie und benachbarte Kinder spielen zusammen mit ihnen. Auch in diesem Zug haben einige Leute Melonen im Gepäck. Ich finde es ganz angenehm hier. Bisher hat sich noch niemand als englischsprachig geoutet, deshalb ist es recht ruhig für mich. Dafür fahren wir an sehr vielen Pferdeherden vorbei, mittlerweile bin ich relativ sicher, dass sie wild sind. Ab und an kann man auch Kamele sehen. Leider sind sie immer so weit weg, dass man auf Fotos kaum was erkennt. Ich hoffe, dass wir bald wieder einen längeren Halt haben, denn ich habe noch kein Wasser gekauft und wollte auch noch ein Fladenbrot als Abendessen besorgen. Es ist 21:32 Uhr, ich hatte die Hoffnung eigentlich aufgegeben aber wir stehen und ich habe beides kaufen können! Was gut ist, weil mein Getränkevorrat leer ist. Das Fladenbrot ist nicht halb so gut, wie es sei. Könnte, aber ok. Hauptsache Wasser!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert