Freiheit und Segen

Indien. Was macht Indien für mich aus? Die Frage stellt sich mir öfter, weil sich die Dinge ändern. Eine Gesellschaft befindet sich im stetigen Wandel und natürlich verändere auch ich mich und mit mir meine Wahrnehmung. Das allererste, das allerdings nach ausnahmslos jeder Ankunft auffällt, ist der Temperaturunterschied. Wobei „auffällt“ schon arg positiv formuliert ist. Indien ist das Land, in dem ich die Klimaanlage nutze, um mein Zimmer auf 30° runterzukühlen (weil ich krank bin und somit den ganzen Tag im Zimmer verbringe). Es riecht überall und damit meine ich nicht stinken, sondern es sind einfach für mich aus Deutschland unbekannte Gerüche in der Luft. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran und ich nehme sie nicht mehr war. Aber woran ich mich vermutlich nicht so einfach gewöhnen kann ist es, gefühlt jede Minute einen Hörsturz zu bekommen, weil durch die kleinen Gassen Motorräder fahren und um sicher zu gehen, dass das im Umkreis von 100 m auch wirklich jeder mitbekommt, wird ständig gehupt. Ein Vorteil dabei ist, dass die Gasse wie ein Verstärker wirkt und man wirklich unter garkeinen Umständen verpassen kann, dass da ein Motorrad ist. Wundervoll.  Und dann gibt es noch Dinge, die einem erst bewusst werden, wenn man etwas länger vor Ort ist und auch ein paar Leute kennt:

Ich reise gerne alleine. Diese Freiheit – jede Minute aufs neue entscheiden zu können, worauf ich jetzt gerade Lust habe. Ich liebe es! Außerdem kommt man so gezwungenermaßen viel schneller in Kontakt mit anderen Leuten. Mögen es Einheimische oder auch Touristen sein. Die Hemmschwelle, eine Einzelperson anzuquatschen ist einfach niedriger. Wobei die Hemmschwelle hier erfahrungsgemäß ehrlich gesagt nicht wirklich vorhanden ist. Sie liegt praktisch auf dem Boden und man kann einfach darübersteigen. Wenn es eins gibt, das ich der gesamten Nation zusprechen würde, dann Kommunikationsoffenheit. Und von meiner Seite aus betrachtet muss ich natürlich immer, wenn ich mich mit jemandem live austauschen möchte, jemanden hier anquatschen. Alleine zu reisen fördert also ganz klar die Kommunikation mit Fremden. Aber zurück zum eigentlichen Punkt. Meine Freiheit. Ich mag sie.  In Varanasi habe ich 3 wirklich gut befreundete Familien, einen guten Freund (Nitin ist wie ein großer Bruder) und einige Bekannte. Das machen 3 Familien, einen Freund sowie etliche Bekannte, die mich aufgrund meiner fehlenden Familienstruktur hier bemitleiden und sie zu ersetzen versuchen. Bedeutet: es mischen sich über 20 Leute in mein Leben ein und sagen mir, was ich tun soll. Ich mochte meine Freiheit. Also das ist ja wirklich süß. Und gerade dann, wenn man krank ist oder es einem sonst nicht so gut ist, tut es auch wirklich gut zu wissen, dass sich jemand um einen kümmert und man nicht allein auf einem Kontinent gestrandet ist, der die eigene Kultur so garnicht versteht.

Ich erzähle einfach ein paar Beispiele. Wie gesagt, bin ich noch etwas krank. Leichtes Fieber, Erkältung mit Kopf- und Halsweh. Nichts schlimmes. Jetzt wollen hier alle, dass ich zum Arzt gehe und verstehen nicht, wie ich das ablehnen kann. Dann bin ich vor 2 Tagen noch auf der Treppe gestürzt. Meine Füße wollten scheinbar einen schnelleren Weg nach unten finden und in der Hinsicht war es auch wirklich effektiv. Die letzten Stufen der Steintreppe habe ich auf einer Poobacke und dem linken Unterarm zurückgelegt. Unkonventionell und auch nicht besonders empfehlenswert. Jedenfalls sind da jetzt große blaue Flecken und eine große Schramme am Arm (die rot ist und nicht schwarz. Was viele total gemein finden, weil es in rot viel schöner aussieht als bei ihrer Hautfarbe. Alles klar ^^). Da das passiert ist, als ich gerade in der Hochphase meiner Fiebrigkeit war, kamen mir dann durch den zusätzlichen Schreck (und es hat schon auch etw wehgetan) kurz die Tränen. Habe Mili, die mir gerade zufällig entgegen kam und sofort das gesamte Gasthaus zusammengerufen hat, gleich versichert, dass es mir gut geht. Ich wurde unter Begleitung von 3 Leuten ins Zimmer gebracht und sofort wurde eine Notfallnachricht an Micha abgesetzt. Der in Deutschland ist (dem das gesamte Projekt hier gehört). Dann wollen sie mich zum Arzt bringen. Ich verneine. Sie halten es für Verständigungsprobleme oder Höflichkeitsgeplänker (mit Deutschen hatten sie scheinbar echt noch nicht viel Kontakt ^^ uns wird ja viel nachgesagt, aber dazu gehört sicher keine ausgeprägte Höflichkeit). 2 min später wird mir das Handy mit Micha in der Leitung in die Hand gedrückt. Ich soll mit ihm reden. Ich mag Micha, aber ohne ihn schlecht reden zu wollen-ich halte seine Fernheilfähigkeiten für sehr arg begrenzt. Aber gut. Quatsch ich halt mit ihm. Er fragt, was passiert ist. Nach der Nachricht, laut der es unserer Julia sehr schlecht geht und sie auf der Treppe gestürzt sei, geht er erstmal davon aus, ich habe mir das Genick gebrochen (warum sonst sollten sie ihn auch anrufen? Er ist in Deutschland). Ich erkläre ihm kurz, dass alles gut ist und wir müssen beide darüber lachen, dass ich dem Tod scheinbar gerade so von der Schippe gesprungen bin und ich jetzt vermutlich besser irgendeinen Gott hier anbeten sollte. Es gibt schließlich für alles einen Gott. Er rät mir, mich auszuruhen. Gut, vlt war meine Annahme zu seinen Heilkünsten etwas voreilig 😉 Bestürzt nehmen Mili, Chandu und Anju dann zur Kenntnis, dass Micha NICHT gesagt hat, ich muss jetzt auf jeden Fall zum Arzt. Könnten sie es rückgängig machen, würden sie vermutlich eine Person anrufen, die englisch spricht und mich zum Arzt schickt. Naja. Ich habe zwar beteuert, einfach nur meine Ruhe und schlafen zu wollen, aber vorsichtshalber sind Mili und Anju dann noch 1,5 Stunden bei mir geblieben und haben mich vollgelabert. Ich habe beide gerne. Aber meine Liebe für Menschen, die mich volllabern, während ich meine Ruhe haben mag, ist wirklich sehr stark begrenzt (das wird super, wenn ich mal Kinder habe ^^).

Ein weiteres Beispiel zum Thema Fremdbestimmung. Ich habe erwähnt, dass ich bei der Hitze sehr viel trinke und dadurch nicht so viel Hunger habe. Und auch so esse ich kleinere Portionen als meine Freunde. Dabei esse ich normal wirklich nicht wenig. Jedenfalls wird hier heiß diskutiert, wie oft, wann, was und wie viel ich hier esse und ständig muss ich geradezu darum kämpfen, nicht noch mehr essen zu müssen. Was ich als extrem nervig und anstrengend empfinde. Zum einen ist es in der Kultur hier verankert, seine Gäste regelrecht zu mästen, wenn man ein guter Gastgeber sein mag. Zum anderen gilt hier zwar der Taroof nicht, aber es geht in die Richtung. Wird einem etwas angeboten (zB magst du einen Chai?), lehnt man aus Höflichkeit erstmal ab. Wird man nochmal gefragt, kann man irgendwann ja sagen. Wenn ich aber 5x gesagt habe, dass ich wirklich satt bin und nichts mehr essen mag, muss ich oft die Hände über den Teller halten, damit ich nicht noch mehr serviert bekomme. Was natürlich unhöflich ist. Aber ich weiß nicht, wie ich das (ohne Lebensmittelverschwendung) höflich lösen kann und habe auch in Zukunft nicht vor, ewig weiter zu essen ^^

Dann hat ein Gasthausmitarbeiter die Tage mitbekommen, dass ich nicht so fit bin. Am ersten Tag hat er mich gefragt, was los sei und ich habe gesagt, dass ich erkältet bin und Verdauungsprobleme habe. 2 Tage später schreibt er mir, er habe seinen Vater (Arzt) gefragt und der empfehle mir irgendwas. Was ja auch nett ist, aber mittlerweile hatte ich keine Verdauungsprobleme mehr, dafür aber Fieber und viel stärkere Erkältungssymptome.

Und dann noch ein kurzes letztes Beispiel. Ich war bei Mili und wurde von ihrer Mutter zum Essen eingeladen. Darauf hatte ich keine große Lust, da die Familie gerade am Streiten war und meine Vorstellung von Urlaub nicht vorsieht, mitten in einem Familienstreit zu sitzen und essen. Daher war ich froh, schon mit Priyanka zum Abendessen verabredet zu sein. Ihre Familie mag ich lieber und das Essen schmeckt auch himmlisch. Nachdem ich daher abgelehnt habe, sagt mir Milis Mutter kurz darauf, gar kein Problem. Sie habe gerade mit Priyankas Mutter telefoniert, heute esse ich bei Mili und gehe dafür morgen zu Priyanka. Ich reise gerne alleine. Diese Freiheit – jede Minute aufs neue entscheiden zu können, worauf ich jetzt gerade Lust habe. Ich liebe es!

Diese Fürsorge, die ich einerseits als übergreifend wahrnehme, trägt aber letztendlich natürlich maßgeblich dazu bei, dass ich mich hier so wohl fühle. Es ist ein Zwiespalt.

Nun zu einer Überraschung. Ich möchte es eigentlich wirklich nicht verschreien. Aber. Ich bin dieses Jahr noch in keinen einzigen Kuhhaufen getreten! Nichtmal Hunde- oder Affenkot habe ich auch nur gestreift! Ob das nun gut ist oder nicht, weiß ich nicht so genau. Kühe sind heilig und demnach habe ich mir bisher eingebildet, eine Art Segnung zu erhalten, wenn ich mal wieder unachtsam war und meinen lediglich von einem Flipflop geschützten Fuß zielsicher in eine Segensquelle führte. In Varanasi gibt es eine Menge Kühe und sehr enge Gassen, da ist das Fladen-zu-freie-Fläche-Verhältnis etwas ungünstig. Beziehungsweise günstig, je nachdem, wie man es sieht. Es gibt Leute, die sich vom Pinkelstrahl einer Kuh etwas über den eigenen Körper spritzen. Weil heilig und so. Von daher spricht ja doch viel dafür, dass es ein Glücksgriff ist, gleich von einem ganzen Fladen beglückt zu werden.

So, es gibt mal wieder einen Stromausfall (einen von vielen am Tag) und scheinbar stimmt was mit dem Notstromaggregat nicht, denn der Ventilator ist ausgegangen. Bedeutet: nach einer Minute vollgeschwitzt. Juhu. Das Wasser beim Duschen ist auch sehr warm, da die schwarzen Wassertanks auf den Dächern nicht so viel Sonnenlicht reflektieren (Überraschung), wie es mir lieb wäre. Man hat dann beim Duschen also einfach nur anderes, warmes Wasser auf der Haut. Zur Abwechslung.

Ich hoffe, der Strom ist bald wieder da. Drückt mir die Daumen, denn heute ist es leider eher windstill.

2 Gedanken zu „Freiheit und Segen

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