Mein neuer Lieblingspolizist und Rückweg

Auch die letzten Tage sind noch ziemlich stressig, ich versuche, noch möglichst mit allen Freunden/Bekannten Zeit zu verbringen und verbringe die Vormittage in der Bäckerei um dort ein wenig bei der Kostenkalkulation auszuhelfen.

Dienstag Nachmittag, also dem Tag, an dem ich mit dem Nachtzug nach Delhi fahre, stelle ich am Bankautomaten fest, dass meine Kreditkarte weg ist. Da ich sie nie aus dem Portemonnaie genommen habe (außer eben am Geldautomaten) und alles Geld noch da ist, bin ich sicher, dass ich sie bei der letzten Anhebung im Automaten vergessen haben muss. Das war am gleichen Automaten. Was gut ist: hier sind die Automaten in einem kleinen Raum, der durchgängig von einem Polizisten bewacht wird. Einem Polizisten, der mich vom Sehen her kennt. Ich gebe ihm zu Verstehen (zumindest glaube ich das), dass ich meine Kreditkarte vergessen habe. Er stellt mir irgendeine Frage, die ich auf gut Glück mit meinem Namen beantworte und er öffnet einen Schrank, aus dem er meine Kreditkarte holt und gibt sie mir. So einfach kann es also sein. Ich hatte keine Panik bis dahin, weil mir hier mal die Kreditkarte geklaut wurde und ich Geld von Leuten hier leihen konnte. Einmal bin ich auch hergereist, ohne mir den Code der neuen Creditkarte zu notieren und habe 4 Wochen ohne eigenes Geld verbracht. Ich bin also geübt und weiß, dass es auch ohne geht. Aber als der Polizist mir dann meine Karte überreicht, bin ich trotzdem überglücklich und bedanke mich überschwänglich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Später möchte ich ihm Süßigkeiten vorbeibringen, jedoch ist er nicht mehr da.

Mili und Anju bringen mich zur nächsten, größeren Straße und helfen mir bei der Tuktuksuche. Wir finden einen Fahrer und dann bin ich auch schon weg. Irgendwie war der Tag so durchgetaktet, dass ich garnicht begreife, jetzt vorerst wieder nach Deutschland zu reisen. Die Fahrt ist angenehm, ich habe glücklicherweise ein Tuktuk erwischt, in dem ich aufrecht sitzen kann und mir nicht bei jedem Schlagloch den Kopf anschlage. Auch habe ich nicht gerade den Rennfahrer unter den Rikshafahrern erwischt, ich werde also auch seitlich nicht besonders hin- und hergeworfen. Ein Glücksgriff also. Und dann erlebe ich die vermutlich witzigste Zugfahrt, die ich je hatte. Mein ganzes Gepäck verstaue ich unter den Sitzen, freue mich aufgrund der stressigen und nicht unbedingt mit besonders viel Schlaf gesegneten letzten Tage darauf, mich sofort schlafen zu legen. Das ist eigentlich mein Ding, sobald ich in einem Nachtzug bin, schlafe ich. Auch, wenn es erst 6 ist. Milis Mutter hat mir Essen für die Fahrt gekocht, es sind Chapatis mit Bratkartoffeln. Da ich heute auch noch nicht besonders viel gegessen hatte, freue ich mich also auch darauf. Breite mein Bettlaken auf der Pritsche aus, setze mich zum Essen und noch bevor ich loslegen kann, schaut ein Kopf eines jugendlichen Mädchens hervor und fragt, woher ich komme. Beim Aufschauen sehe ich noch mehrere neugierige Blicke von Frauen in verschiedenem Alter. Sie winken. Wir kommen kurz ins Gespräch, dann lassen sie mich aber essen. Anschliekomme ich von meinem Bett runter, um den Müll zu entsorgen und die Hände zu waschen (hier wird ja alles mit den Händen gegessen). Und schon fragt mich eine der Frauen, ob wir ein Foto machen können. Ich stimme zu, sie wirken nett. Und wie es dann so ist, das erste Foto löst immer eine Welle an Motivation in den Leuten näherer Umgebung. Wobei ich überrascht bin, nur drei Frauen machen ein Foto. Dann laden sie mich ein, mich zu ihnen zu setzen, sie wollen mehr über mich erfahren. Zeigen mir Fotos von ihrem Aufenthalt in Varanasi und fragen, wie alt ich sei. Die Gruppe besteht aus 5 erwachsenen Frauen und ihren Kindern, die zwischen 16 und 21 Jahre alt sind. Eine der Mütter stellt mit Bedauern fest, dass ich zu alt für ihren Sohn sei, sonst hätten wir heiraten können. Sie geben mir aber zu verstehen, dass das nur Spaß ist. Sie lachen extrem viel, zum ersten mal gehöre ich zu den Leuten, die im Zug so einen Lärm verursachen. Die gleiche Mutter, die mich mit ihrem Sohn hätte verkuppeln wollen (der direkt neben mir sitzt und dem das ein wenig peinlich ist), fragt nun,ob ich vielleicht jemanden für ihre Tochter wüsste. Neha ist 21, sitzt neben ihrem Bruder und schaut mich auch fragend an 😀 ich erwähne die Existenz meines 23-jährigen Bruders und nach der kritischen Beäugung eines Fotos sind sie glücklich mit dem neuen Fund. Tim, ich hätte da Neuigkeiten für dich 😉 dann wollen sie plötzlich, dass ich ihnen ein deutsches Lied vorsinge. Da ich einigermaßen singen kann und hier eh niemandenkenne, ist es mir nur mittelmäßig peinlich. Das Problem ist nur, dass mein Kopf wie leer gefegt ist, mir fällt kein deutschsprachiges Lied ein. Wir einigen uns darauf, dass auch ein englischsprachiges Lied in Ordnung geht und so fange ich an, Stand Up von Cynthia Erivo zu singen. Bin selber von mir überrascht, dass ich in einem komplett offenen Zug mal ein Lied laut singen würde. Vorbeikommende Chaiverkäufer werden zur Stille ermahnt, um mich nicht zu stören. Ich höre irgendwann auf, dann singen sie ein Lied. Es ist ziemlich witzig, bis ein Polizist kommt und uns mitteilt, dass wir so laut wären, dass sich Passagiere beschwert hätten. Es ist abends, das ist ein Nachtzug und man wolle hier schlafen. Unsere spontane Gesangseinlage endet damit und wir gehen wieder zu Gesprächen über, wobei wir immer wieder versuchen leise zu sein. Mit eher mäßigem Erfolg 😀 und nun fragen die „Kinder“ nach meinem Insta-Account und wollen auch Selfis machen. Es beginnt ein bestimmt halbstündiges Fotoshooting in den unterschiedlichsten Konstellationen. Dann ist es etwa 12 und wir beschließen, schlafen zu gehen. Ich schlafe ziemlich gut, bis ab 4 Uhr etwa im 15-min-Takt irgendwelche Wecker klingeln. Und scheinbar nur mich wecken und nicht die Personen, die den Wecker auf unmenschliche Uhrzeiten und Lautstärken gestellt haben. Ausgeschlafen ist daher leider eher ein Zustand, von dem ich träume. Aber die Mädels hatten auch schon festgelegt, dass ich dann in Deutschland schlafen kann. Wir warten nun also auf unsere Ankunft in Delhi. Und selbst ihnen ist kalt, nicht nur ich sitze hier mit Decke. Die Temperaturregulierung im Zug wird sich mir wohl nie erschließen. Der Morgen verläuft verhältnismäßig ruhig, man merkt meinen neuen Freunden an, dass auch ihnen ein wenig mehr Schlaf gut getan hätte. Schnell werde ich eingeladen, mich wieder zu ihnen zu setzen, aber es ist ruhig. Eigentlich sollte der Zug laut App pünktlich ankommen (um 8:25 Uhr), um 9:53 Uhr wird mir aber mitgeteilt, dass wir um 10 ankommen. Bis dahin wurden in einem plötzlichen Anflug von Hunger oder zumindest Lust auf Snacks lauter ungesunde Snacks verteilt und sobald eine Tüte leer war, wurde auch schon die nächste geöffnet.

Hier ein Teil der Gruppe:

An diesem Punkt habe ich aufgehört zu schreiben. Die plötzliche Energiezufuhr hat uns alle wacher gemacht (mich hauptsächlich dadurch, dass sie wieder mehr und lauter gequatscht haben) und ab und an kam es zu spontanen Gesangseinlagen. Mir ist die perfekte Welle von Juli eingefallen, ein deutsches Lied, dass ich auf meiner ersten Karaoke-DVD hatte. Irgendwo kursiert jetzt ein Video davon, wie ich es zum Besten gebe 😅 mit dem Applaus wurde anschließend immer wieder erwähnt, dass ich das auf meiner Sprache gesungen habe, mehr habe ich nicht verstanden. Es wurde wieder so witzig, wie am Abend und wir haben uns bei der Verabschiedung noch oft zugewunken.

Ich bin also in Delhi. Eine riesige Stadt, die ich nicht gut kenne, da ich hauptsächlich zur Durchreise hier bin. Da Micha hier ein Restaurant hat, dessen Mitarbeiter ich teils kenne, halte ich mich im entsprechenden Viertel auf. Es ist der touristischste Teil der Stadt und entsprechend anstrengend finde ich es, ständig angelabert zu werden. Hier fällt mir erst auf, wie froh ich bin, dass die Leute in Varanasi mich kennen und ich meistens in Ruhe gelassen werde. Und auch woanders werde ich verhältnismäßig wenig angelabert. Das führe ich hauptsächlich darauf zurück, dass ich indische Kleidung trage und abgesehen von meiner Haut- und Haarfarbe nicht besonders touristisch aussehe. Zudem habe ich „are, nahin bhaiya“ für mich entdeckt, die ein genervter Ausdruck für „nein, Bruder“ ist und die meisten aufdränglichen Verkäufer verscheucht. Delhi ist anders, hier ist es extrem touristisch und einer Menge Leute Einkommen hängt von den Touristen ab. Außerdem ist es genau so schmutzig und laut, wie andere Großstädte und damit hält sich meine Motivation, viel Zeit in der Stadt zu verbringen, in Grenzen. Heute stand eine große Shoppingtour auf der To-Do-Liste, ich habe eine Menge Küchenkram besorgt. Ich liebe das Kochen und Backen und wenn es dann Utensilien dazu in ganz günstig gibt, habe ich mich nur schwer unter Kontrolle, nicht alles zu kaufen. Außerdem habe ich große Haarspangen besorgt, weil die hier nur etwa 40 ct kosten und die deutschen Drogeriemärkte mehrere Euro für einen angemessenen Preis halten.

Morgen Abend fliege ich schon zurück! Und überraschenderweise überwiegt in dieser Sekunde die Vorfreude auf die Heimat. Natürlich würde ich auch sehr gerne noch länger hier bleiben, vor allem noch mehr Zeit im Süden verbringen. Aber ich freue mich auch wirklich wieder auf das Leben in einer mir vertrauten Kultur, in der nicht alles irgendwie anstrengend ist, weil ich weiß, wie was funktioniert, niemanden nach Preisen/Wegen/Ticketkäufen fragen muss. Es besteht keine Sprachbarriere und ich muss nicht zusätzlich zu den sprachlichen Hürden auch auf kulturelle Differenzen achten und überlegen, wann ich wie kulturkonform reagiere. Wie ich anderer Leute Verhalten deuten muss. Wie viel Aufmerksamkeit ich dem anderen Geschlecht schenken darf, ohne dass es gleich meint, ich würde mit ihm schlafen. Ich weiß, wie ich an Information komme und bin nicht ständig auf die Hilfe und das Wohlwollen anderer angewiesen. Wenn ich plane, dann geht das meistens auf, weil ich Situationen und Zeiten viel besser einschätzen kann. Außerdem werde ich in meiner (viertel) Kücce kochen und backen. Darauf freue ich mich wirklich sehr! Denn auch, wenn ich froh bin, dass ich in Varanasi und Bangalore ab und an kochen oder backen durfte, so waren es halt doch andere Ausstattungen und ich musste fragen, wo ich was finde. Ich glaube, dass mir all das geballt kommt, da ich die letzten Tage wirklich viel unterwegs war, deshalb jeden Tagesausflug genau geplant habe (so ganz deutsch) und die Pläne kaum funktioniert haben, weil ich auf irgendwas warten musste, jemand mich nicht hat gehen lassen hat, extrem beim Kochen getrödelt hat und ich somit erst um 11 und damit 1 Stunde nach Schließung des Gasthauses ankam, andererseits aber auch nicht früher gegen wollte, weil ich bis dahin wirklich hungrig war und sonst nirgends mehr was bekommen hätte. Das hat mich gestresst. Der Stress fällt dann weg, dafür werde ich mir was neues suchen müssen, in das ich mich rein stressen kann. Da ruft die Jobsuche laut hier.

Da das Internet in meinem billigen Gasthaus in Delhi unterirdisch schlecht ist (mal habe ich eine Verbindung, mal keine und wenn ich eine Verbindung habe, dann ist sie meist so schlecht, dass selbst WhatsApp-Nachrichten mehrere Minuten laden, bis sie empfangen oder verschickt werden können), verbringe ich lieber Zeit im Gebäude, wo auch Michas Restaurant ist. Hier funktioniert es besser und da es dicht umsiedelt von anderen Gebäuden ist, kommt die Sonne nicht hin. Bedeutet, es ist mit Ventilator ganz angenehm. Nachteil: hier gibt es Mücken. In einem Land, in dem Malaria nicht selten vorkommt und in der Regenzeit zu einem besonderen Hochpunkt kommt, eher nicht so cool. Besonders deshalb, weil ich in der Welt der Ungeziefer scheinbar ein sehr hohes Ansehen habe und immer als einzige gestochen/gebissen werde. An dieser Stelle wäre ich für mehr Gleichberechtigung. Dann müsste ich Tage mit nur 2 neuen Stichen nicht als gute Tage bezeichnen. Durch meine hektischen letzten Tage hält es mein Körper mittlerweile für ausgemessen, wenn ich um 8 Uhr nicht mehr schlafen kann. Das entspricht halb 5 Uhr morgens in Deutschland. Vielleicht werde ich also noch zum frühen Vogel!

Jedenfalls konnte ich den Beitrag gestern nicht mehr hochladen, mittlerweile ist es also Donnerstag früh. Heute Abend fliege ich schon zurück!

Zum Abschluss noch ein paar Fotos:

Varanasi, die Hauptstraße zum wichtigsten Tempel:

Varanasi, eine der kleinen Gassen:

Varanasi:

Delhi, Obststände:

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