Tag 1 und der letzte Tag in Varanasi

29.11., Heute ist Tag 1. Irgendwas irritiert mich. Ich sitze auf der Riksha auf dem Weg zu einem Laden, in dem ich Freunden ein paar Sachen besorgen möchte. Dann fällt es mir auf: die Sonne kommt durch und der Himmel ist sogar leicht blau! Sofort habe ich das Gefühl, besser atmen zu können (obwohl ich nie das Gefühl hatte, schlechter atmen zu können). Mitten im Straßenverkehr fühle ich mich, als würde ich frische Bergluft atmen. Gleichzeitig ist hier praktisch jeder am Husten. Die Leute hier schieben es auf die Kälte (an einem Morgen in Varanasi hatte es nur 18°C und ein Azubi hat sich beschwert, dass es bei dieser Kälte arbeiten muss. Das sind Zustände) – mit so einer Beschwerde würde ich jetzt eher nicht rechnen. Und besonders mit den Bildern vom verschneiten Deutschland in den Nachrichten im Kopf fällt es mir auch arg schwer, ihn ernst zu nehmen. Seinem Boss ging es wohl ähnlich, sie müssen dennoch weiter arbeiten. Ich schiebe es nicht auf das „kalte“ Wetter,  sondern eher die Luftqualität. Aber was weiß ich schon. Was mich darauf bringt, dass die Rollen hier vertauscht sind. Während ich mich bei 20° in Kurta (lange Bluse) und Leggins durchaus wohl fühle, werde ich des öfteren gefragt, ob mir nicht kalt sei ohne Pulli? Hier werden Mützen und Jacken getragen, teilweise auch Ohrenwärmer. Alles durchaus nützliche Dinge in meinen Augen. Aber halt eher für niedrige Temperaturen. Komisch, wenn ich das sage so als Frostbeulenqueen.

Donnerstag. Der Wecker klingelt um 6:20 Uhr, der Tag ist gut durchgeplant. Ich mag Pläne. Und ich schaffe es nicht, davon abzulassen und alles spontan auf mich zukommen zu lassen. Wäre aber besser, denn ich mag es nicht, wenn meine Pläne nicht aufgehen. Und hier gehen sie nur seltenst auf. Das beginnt heute schon damit, dass es regnet. Es ist keine Regenzeit und daher regnet es fast nie zu dieser Jahreszeit. Aber heute tut es das. Blöd. Vor kurzem habe ich gelesen, dass es einen Wettbewerb gab im Müll sammeln oder Straßen sauber machen (ich glaube, das war in Tokio?) und ich bin mir ziemlich sicher, dass Indien da nicht mitgemacht hat. Zumindest niemand aus Varanasi. Der würde Varanasi nämlich garnicht verlassen können, so viel Arbeit steht hier an. Es ist ja nicht nur der Hausmüll, der nachts auf die Straßen geworfen wird, sondern vor allem die Erde zwischen den Steinen und der Kuhmist (außerdem etwas Hundekacke), der zusammen mit dem Regen eine richtig angenehme, glitschige Schicht entstehen lässt. Wunderbar zur Fortbewegung. Meine Motivation, das Gasthaus oder auch nur das Bett zu verlassen, schwindet deutlich. Ich stehe ein wenig später auf, denn ich weiß, dass bei Regen alles verspätet losgeht. Da brauche ich mich nicht zu beeilen.

Der Plan ist folgender: aufstehen, mit meinen Sachen zu Priyankas Haus (da habe ich noch den Großteil meines Gepäcks stehen), da eine Tasche holen, in der Geschenke für Meenas Kinder drin sind. Dann damit zu Meena, die Tüte abgeben und ein altes T-Shirt für die Kuhkacke-Aktion mitnehmen. Dann weiter zur Schule. Nach der Schule dort duschen und umziehen, dann direkt zum Mittagessen zu Milis Mutter und eine Tasche abholen, die ich ihr nach Goa mitbringen soll. Auf dem Rückweg in einem Laden vorbei und nach nem Wollschal schauen. Dann bei Nitin vorbei und verabschieden. Dann zum Laden, wo ich einen Druckkochtopf für Meena vorbestellt habe und ihn ihren Kindern bringen, damit verabschieden. Dann zurück zu Priyankas Haus, packen und fertig machen für die weitere und (zumindest für mich) letzte Hochzeutsfeier am Abend. Samt Gepäck zur Hochzeit, von dort direkt zum Zug und über Nacht mit dem Zug nach Delhi fahren.

Und jetzt zur Umsetzung. Trotz Vorankündigung macht in Priyankas Haus niemand auf und ich komme nicht an meine Sachen. Dann weiter zu Aditya und Shreya, von Shreya bekomme ich ein altes T-Shirt. Da ich etw später dran bin und der Boden wirklich eklig ist – außerdem habe ich jetzt auch meine schwere Tasche dabei – nehme ich eine Riksha zur Schule und bin pünktlich um halb 9 vor Ort. Dann fangen wir an, den Kindergarten auszuräumen und die Wände mit Wasser abzuspritzen. Und warten. Es fehlen die Eimer, in denen wir Lehm, Kuhmist und Wasser mischen wollen. Und der entsprechende Shop hat wohl noch nicht offen. In 30 min soll es losgehen. In dem Fall gehe ich erstmal frühstücken. Als ich zurück komme, wird klar, dass es sich noch etwas länger ziehen wird. Bis es um halb 11 vollends auf den nächsten Tag verschoben wird. Hmm. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll – schließlich ist es nicht so, dass ich mich darum reiße, Kuhkacke in meinen Händen zu halten, andererseits wäre es mal wieder ein aus der Komfortzone rausbewegen und dem gegenüber bin ich prinzipiell nicht abgeneigt. Ich habe also unverhofft noch etwas Puffer und gehe zurück zu Priyankas Haus, diesmal wird die Tür geöffnet. Ich packe meine Sachen und mache mich auf den Weg zu Milis Mutter. Gehe bei dem Laden vorbei, wo ich zwei keinen Schal, dafür aber eine Hose finde. Die ist leider etwas zu kurz, aber bis 5 Uhr können sie mir eine neue nähen. Um 5 soll ich eigentlich bei Bhabli sein, um für die Hochzeit fertig gemacht zu werden. Aber hey, wer ist hier schon pünktlich. Ich sage zu, um 5 wiederzukommen. Bei Milis Mutter angekommen treffe ich auch ihre beiden Schwestern sowie einen Schwager. Riya und ihr relativ frisch verheirateter Mann sagen nach etwa einer dreiviertel Stunde, dass sie jetzt los müssen, da Riya Nachhilfeschüler hat, die gleich kommen. Sie verabschieden sich, bleiben aber doch noch eine halbe Stunde, laufen immer wieder hin und her, setzen sich wieder und quatschen. Das stresst mich unverhältnismäßig. Kann mir ja eigentlich egal sein, aber sie kommt zu spät zu ihren Schülern. Dann gibt es Essen und die Mutter packt derweil zusammen, was ich Mili mitbringen soll. Das ist mir in dem Moment noch nicht bewusst, aber sie wollen mir einen ganzen Koffer voller Snacks mitgeben. Ich habe ein freies Gepäckstück und habe ja selbst meinen großen Rucksack. Ich sage also, dass ich nicht so viel mitnehmen kann und da alles viel zu viel ist, werde ich wohl eine weitere Tasche als Handgepäcksstück mitnehmen. Da sie die Flughäfen ja meist nicht so genau. Dann geht es weiter, leider hat der Kochtopfladen entgegen der gestrigen Aussage zu. Also hole ich die Geschenktasche und mache mich ohne Topf auf zu Adit und Shreya. Wir quatschen noch ein wenig, dann verabschiede ich mich und gehe zu Nitin. Auch wir quatschen noch ein Weilchen und ich hole anschließend meine Hose. Um viertel nach 5 ist sie fertig genäht und ich laufe zurück zu Bhabli. Sie ruft derweil schon an und fragt, wo ich bleibe. Damit, dass die Make-Up Frauen pünktlich sind, konnte ich nun wirklich nicht rechnen. Ich beeile mich, zurückzukommen. Dann werde ich von einer Frau geschminkt und gefragt, ob sie mir die Haare glätten soll. Auf garkeinen Fall – nicht umsonst habe ich gestern Nacht meine Haare nass gemacht, damit meine Locken wieder etwas mehr rauskommen! 2 min später glättet sie mir die Haare. Bei der 4. Nachfrage von ihr und Bhabli habe ich nicht mehr Stand gehalten und lasse sie ihr Werk vollbringen. Habe ich halt glatte Haare, was soll’s. Ist immerhin mal was anderes. Um 7 Uhr hieß es mal, gehe es los und um 9 sei es schon vorbei. Fand ich komisch, aber was verstehe ich schon von den ganzen Hochzeitsfeierlichkeiten hier? Heute Mittag wurde mir gesagt, dass es um 8 losgehe und wir um 8 da sein wollen. Um 10 nach 8 geht der Vater duschen. Derweil suchen wir alle möglichen Schlüssel, welche und wofür, weiß ich auch nicht.  Etwas Zeit überbrücke ich dabei mit einem Gespräch mit Priyankas Bruder. Wir reden über die kulturellen Unterschiede des Gast seins und des Stellenwertes der Familie in Deutschland und Indien. So Gespräche mag ich. Es ist immer für beide Seiten lehrreich. Langsam werde ich etwas nervös, denn Nitin ist der Meinung, ich sollte mich spätestens um 9 auf den Weg zum Bahnhof machen. Das wird knapp. Gegen halb 9 brechen wir auf. Vivek erklärt mir, dass seine 2 Cousins mit einem Roller fahren und meinen großen Rucksack mitnehmen und er mich und meine Tasche auf dem anderen Roller hinbringt. Da ich einen Saree trage, kann ich den großen Rucksack nicht tragen. Dann gehen wir los und müssen scheinbar erstmal durch halb Varanasi laufen, bis wir zu den Rollern kommen. An einer großen Kreuzung fragt er mich, ob es mich störe, hier einen Moment stehen zu bleiben und zu warten. Ich? Im Saree und mitten auf einer Kreuzung in Menschenmassen? Ach quatsch, da stelle ich mich wirklich sehr gerne zur Schau. Vermutlich kennt mich nun nicht nur das gesamte Viertel, sondern auch sämtliche umliegenden. Die Leute haben mich fotografiert, haben nach Selfis gefragt und sind einfach stehen geblieben und haben mich angestarrt. Es war so absurd, dass ich lachen musste. Ein Mann bittet um ein Selfi, er wirkt aber komisch. Daher lehne ich ab – in der Erwartung, dass er relativ offensichtlichen dennoch eins macht. Aber falsch, er sagt ok und geht. Jetzt tut es mir fast leid. Nach gefühlt einer Stunde (tatsächlich vermutlich keine 10 min) kommen sie mit den beiden Rollern und ich steige auf. Da ich den Saree trage, der um die Beine rum wie ein engerer Rock ist, setze ich mich wieder seitlich hin. Mittlerweile fühle ich mich dabei auch schon wie ein Profi.

Und dann kommen wir nach ca. 15 min an! Ich hatte irgendwie eine kleine Feier im Haus der Schwiegerfamilie erwartet. Wie dumm von mir. Es gehört schließlich zur Hochzeit, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwas nicht extrem pompös ist, verschwindend gering. Vom Festsaal habe ich leider kein Foto gemacht, aber hier vom Weg dorthin:

Macht auf jeden Fall was her. Sollte ich mal heiraten und Priyanka zu meiner Hochzeit kommen, würde sie es vermutlich für eine kleine Familienfeier halten. Im Festsaal steht das Brautpaar wieder auf einer Bühne und die Leute lassen sich abwechselnd zusammen fotografieren. Davor sind einige Reihen mit Stühlen aufgestellt und dahinter ist eine große Fläche, die von Cateringständen umrundet ist. Zudem laufen jede Menge Diener rum, die Snacks verteilen. Ab und an spielt eine kleine Band laut auf Trommeln. Wie immer sorgt sich Priyankas Familie unheimlich lieb um mich, sie erklären einigen Verwandten der Schwiegerfamilie sogar extra, dass ich vegan und weisen sie an, mir die veganen Gerichte zu zeigen. Zunächst wird mir ein Cousin des Bräutigams vorgestellt, er beginnt damit, mich einzuführen und stellt direkt fest, dass ich aber gut englisch spreche. Ich bin ehrlich gesagt etwas irritiert, das von jemandem zu hören, der englisch genauso als Zweitsprache hat. Aber gut. Komplimente nimmt man, wie sie kommen. Er erzählt, dass er irgendwelche Verwandte hat, die in Deutschland leben und von denen wisse er, dass man in Deutschland nur schwer mir englisch durchkommt. Das mag ich auch garnicht bestreiten. Aber meiner Erfahrung nach ist es in Indien nicht anders 😀 Danm muss er so viele Verwandte begrüßen, dass er gleich einen anderen Cousin findet, an den er mich abschiebt. Er wird kurz gebrieft, was ich essen kann und offensichtlich hört der gute kein bisschen zu, denn er zeigt mir alle Gerichte, die nicht extrem scharf sind. Auch ok. Da alles beschriftet ist und die Cousins das Essen nicht selbst zubereitet haben, sehe ich eh keinen großen Mehrwert in ihrer Begleitung. Außer natürlich, dass es sehr nett gemeint ist. Ich bedanke mich also, nehme mir etwas und setze mich zum Essen hin. Ein Nachbar des Bräutigams gesellt sich zu mir und auch er stellt mit als erstes fest, dass ich gut englisch spreche. Langsam komme ich mir etwas verarscht vor 😀 es ist nämlich durchaus so, dass ich während der gesamten Tage nur mit einer Handvoll Leute auf englisch kommunizieren kann. WEIL HIER SONST AUCH WENIGE SEHR GUT ENGLISCH SPRECHEN.

Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass es später ist, als erwartet und ich bin mir unsicher, ob ich entspannt bleiben soll – weil zur Not buche ich halt den Flieger nachts um 4. Der würde auch noch reichen. Wäre nur relativ unnötig. Oder ob ich mich stressen lasse. Ich entscheide mich bewusst dafür, mich nicht stressen zu lassen. Und überlege etwa alle 15 min aufs neue, ob ich wirklich entspannt bleiben kann. Haut also wirklich super hin.

Dann werde ich gerufen, wir wollen mit der Familie Fotos machen. Praktisch für alle, dass man mich in der Masse gut ausmachen kann. Auf der Suche nach den letzten Familienmitgliedern ist es garnicht so leicht, sie zu finden. Immerhin sind alle sehr bunt gekleidet, die Haarfarbe ist auch gleich. Ein über allen Köpfen schwebender Rotschopf ist da natürlich einfacher auszumachen. Nach einem Gewusel auf der Bühne rät mir Vivek, lieber nochmal was zu essen, da sie mich gleich zum Bahnhof bringen würden. Gesagt, getan. Ich merke an, dass ich mich vorher auch noch umziehen müsste und dann beginnt die große Organisiererei. Wo ziehe ich mich um, wie komme ich zum Bahnhof und wie viele Cousins/Brüder begleiten mich? Ich versichere, dass es völlig fein ist, wenn mich ein Autorikshafahrer fährt und kurze Zeit scheint das klarzugehen. Bis irgendjemand anmerkt, dass es ja wohl überhaupt nicht geht, dass ich ganz alleine zum Bahnhof gefahren werde. Ja, was ein Unding. Also wird beschossen, mich wieder auf 2 Motorrädern zu bringen. Nitin hatte mir gesagt, ich soll unbedingt um 8 Uhr zum Bahnhof aufbrechen. Das scheint mir allerdings viel zu früh. Vivek hatte mal von 10 Uhr gesprochen (mein Zug geht um 23:10 Uhr). Es wird ein Kompromiss: um 22:20 Uhr fahren wir los. Und kommen auch schon 10 min später an. Also alles völlig im Rahmen. Da der Zug in Varanasi startet, steht er bereits im Bahnhof und ich richte mich ein. Endlich wieder Nachtzug fahren!

Und hier noch ein Foto der Ghats in Varanasi:

Ich komme kaum hinterher mit dem Schreiben, weil so viel los ist. Dieses Wochenende arbeite ich auf dem Christkindelsmarkt in der schweizer Botschaft in Delhi. Auch interessant. Davon werde ich auch noch berichten 🙂

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